Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914, München: Carl Hanser Verlag 2009, 528 S., ISBN 978-3-446-23292-1, EUR 25,90
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Die Wahrscheinlichkeit war hoch, in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ein Leben in Frieden und Wohlstand zu führen. Voraussetzung dafür war jedoch, dass man in einem der westlichen Staaten Europas lebte, um die es in dem neuen Buch des Wiener Historikers Philipp Blom in erster Linie geht. Lediglich in der Peripherie trafen im Krimkrieg (1854-56) mehr als zwei der Großmächte aufeinander, wobei es jedoch gelang, den Konflikt lokal zu begrenzen. Stand man nicht als Soldat in einem der beteiligten Heere, berührte einen der Krieg kaum, sieht man einmal von den Aufregungen der täglichen Zeitungslektüre ab. In den Folgejahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges gab es keine weitere militärische Auseinandersetzung, an der mehr als zwei der europäischen Großmächte gleichzeitig beteiligt gewesen wären. Dies soll nicht heißen, dass in dieser Zeit keine Kriege geführt wurden; im Gegenteil: Die Angaben der Forschung für die knapp sechs Jahrzehnte zwischen Krim- und Weltkrieg variieren zwischen 63 und 78. [1] Jedoch unterschieden sich diese Kriege in einem wesentlichen Punkt von vorangegangenen und - was die Zeitgenossen natürlich nicht wissen konnten - noch bevorstehenden Konflikten. Sie wurden - entgegen einer verbreiteten Rhetorik, die den republikanischen Krieg, der keine Privatheit mehr kennt, propagiert - als gehegte Kriege geführt, in denen erstmalig die Trennung von kämpfenden Truppen und Zivilbevölkerung gelang. Dieter Langewiesche sieht darin zu Recht eine der großen, wenngleich bislang kaum gewürdigten Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. [2] Dies galt freilich nur für diejenigen Kriege, die im westlichen Europa ausgetragenen wurden, nicht für die außereuropäischen und erst recht nicht für die Kolonialkriege.
Obwohl die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg mittlerweile als ein goldenes Zeitalter gelten - nicht nur gab es kaum Kriege, auch die Wirtschaft brummte und immer mehr Menschen profitierten vom technischen und sozialen Fortschritt -, steht diese im Rückblick vorgenommene Bewertung in krassem Gegensatz zu dem Bild, das sich die Zeitgenossen selbst von ihrer Epoche machten. Joachim Radkau spricht mit Blick auf das deutsche Kaiserreich von einem "Zeitalter der Nervosität", Volker Ullrich von der "nervösen Großmacht"; Michael Stürmer bescheinigt den Deutschen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine notorische Ruhelosigkeit, während Karl Lamprecht - ein Zeitgenosse - bereits 1905 seiner Epoche den Stempel besonderer "Reizbarkeit" aufdrückte. [3] Gemeinsam ist den genannten Arbeiten allesamt ein spezieller Fokus auf die Weltpolitik, wobei stets das Verhältnis der Nation zum Krieg im Mittelpunkt steht, einem Krieg, der von den meisten Zeitgenossen über kurz oder lang als unvermeidlich erachtet wurde. Recht zutreffend erfasste die katholische Tageszeitung Germania den Nerv ihrer Zeit, als sie im Sommer 1877 feststellte, dass das "alte Europa [...] tief krank am Kriegsfieber" sei: "Es sehnt und schreit nach Frieden und fühlt doch, wie seine Kräfte im Kampfe gegen die Krankheit erschlaffen und zu ersterben drohen. Woher nur dieser überreizte, krankhafte Zustand der Staaten und Individuen?" [4]
Mit dieser Frage beschäftigt sich auch Philipp Blom, der dafür eine ganz eigene methodische Herangehensweise wählt. Anders als beispielsweise Radkau nähert er sich der Epoche - laut Titel die Jahre 1900 bis 1914, tatsächlich jedoch beleuchtet er das 19. Jahrhundert deutlich umfassender - weniger analytisch, als vielmehr in einer Weise, die, ginge es um Malerei, als impressionistisch charakterisiert werden könnte. Dies zeigt bereits der Aufbau des Buches. Die Zeitspanne zwischen Jahrhundertwende und August 1914 wird vermeintlich chronologisch strukturiert, jedem der insgesamt 15 Kapitel ist eine Jahreszahl zugeordnet. Wer jedoch eine simple Aneinanderreihung von Ereignisgeschichte erwartet, wird enttäuscht. Jeweils ausgehend von einem mehr oder weniger markanten Ereignis, die Weltausstellung des Jahres 1900, die Den Haager Friedenskonferenz (1907) oder die erste erfolgreiche Überquerung des Ärmelkanals in einem Flugzeug (1909), entwirft Blom Kapitel für Kapitel ein in der Summe beeindruckendes kulturgeschichtliches Panorama des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Leser erfährt von neuen Technologien und alternativen Lebensformen, von weltpolitischem Größenwahn und kolonialem Völkermord, vom Gefühl zivilisatorischer Überlegenheit und individueller Minderwertigkeit; von starken Frauen ist die Rede, und von der Ohnmacht, die Männer bei ihrem Anblick beschlich; auch die Kunst bot dem Zeitgenossen keine Zerstreuung mehr; im Gegenteil, sie konfrontierte ihn mit Eindrücken, deren Existenz ihm bis dato allenfalls - wenn überhaupt - im ehelichen Schlafzimmer angedeutet worden war. Kurzum, es war eine zunehmend verwirrende Welt, der sich die Menschen an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert ausgesetzt sahen. Die über sie hereinbrechenden Veränderungen schienen so allumfassend, dass selbst das Private, bislang ein Ort des Rückzuges und der Besinnung, seine bisherige Funktion zu verlieren drohte. Am deutlichsten manifestierte sich der Zustand allgemeiner Unruhe und Verwirrung im öffentlichen Diskurs über die Nervenschwäche, für Zeitgenossen die Volkskrankheit des 20. Jahrhunderts. Die Presse berichtete ausführlich über die neue Nervosität, eine Flut von Ratgebern überschwemmte den Buchmarkt und die Zahl derer, die sich als (zumeist selbsternannte) Neurastheniker in medizinische Behandlung begaben, stieg ab den 1880er Jahren drastisch an. Erst der Kriegsausbruch im Sommer 1914 bereitete dieser Entwicklung ein abruptes Ende.
Bloms Buch über diese Zeit ist in erster Linie ein Lesevergnügen, das sich sowohl an den Historiker als auch den historischen Laien richtet. Die allermeisten Kapitel sind ihm vorzüglich gelungen; sie liefern ein stimmiges, in sich geschlossenes Ganzes. Dies gilt unter anderem für das Jahr 1903, als eine gewisse Maria Skłodowska - zusammen mit ihrem Mann, Pierre Curie, dessen Familiennamen sie trug - als erste Frau den Nobelpreis für Physik erhielt. Dies als Ausgangspunkt wählend, entwirft Blom ein ebenso informatives wie geschickt komponiertes Bild der revolutionären Entdeckungen in den Naturwissenschaften an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. (Das sogenannte Wunderjahr der Naturwissenschaft, 1905, ist zu Recht der russischen Revolution vorbehalten). Er berichtet von Atomen und Röntgenstrahlen, von neuen Möglichkeiten der Kommunikation, und davon, dass dank der Elektrizität die Häuser der Bürger nun auch bei Nacht in hellem Licht erstrahlten. Die Detailfülle der Ausführungen ist durchweg beeindruckend; und stets schwingt die Frage mit, welche Auswirkungen die tiefgreifenden Veränderungen, die alles Vertraute unterwanderten, auf die Erfahrungswelt der Menschen hatten. Sie finden sich unter anderem in der Literatur, bei Robert Musil, Stefan George oder H.G. Wells, wieder.
Nicht alle Kapitel sind Blom (Jahrgang 1970) gleichermaßen geglückt. Das Russlandkapitel aus Anlass der revolutionären Ereignisse des Jahres 1905 erinnert stark an Orlando Figes Interpretation der russischen Revolution. [5] Auch stößt der kritische Leser an der einen oder anderen Stelle auf kleinere inhaltliche Unstimmigkeiten. Seine These vom großen Einfluss des deutschen Adels auf die Politik - im Gegensatz zur englischen Aristokratie, die zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend entmachtet war - sieht Blom dadurch bestätigt, dass bis 1918 sämtliche Reichskanzler Adelige gewesen seien (55). Den bürgerlichen Georg Michaelis, der das Amt 1917 innehatte, übersieht er dabei jedoch.
Alles in allem aber ist Blom ein glänzendes Buch zu einer der spannendsten Phasen europäischer Geschichte gelungen, das sicherlich nicht nur unter Historikern auf großes Interesse stoßen und zahlreiche Leser finden wird. Das liegt nicht zuletzt an der ausgezeichneten Lesbarkeit der Arbeit - Blom hat viele Jahre in England verbracht und von dort offenbar mitgenommen, dass Wissenschaft und Lesbarkeit keine Gegensätze sind -, von der sich der eine oder andere deutsche Fachhistoriker eine Scheibe abschneiden könnte.
Anmerkungen:
[1] Jost Dülffer / Martin Kröger / Rolf-Harald Wippich: Vermiedene Kriege: Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krim-Krieg und Erstem Weltkrieg, 1856-1914, München 1997, 604.
[2] Dieter Langewiesche: Eskalierte die Kriegsgewalt im Laufe der Geschichte?, in: Jörg Baberowski (Hg.): Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, 27f.
[3] Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998; Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, 1871-1918, Frankfurt 1997; Michael Stürmer: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918, München 1985; Karl Lamprecht: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, Bd. 2, Freiburg 1905, 250.
[4] Germania, 30. Juni 1877.
[5] Orlando Figes: Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891-1924, Berlin 1998.
Florian Keisinger