Benjamin Straumann: Hugo Grotius und die Antike. Römisches Recht und römische Ethik im frühneuzeitlichen Naturrecht (= Studien zur Geschichte des Völkerrechts; Bd. 14), Baden-Baden: NOMOS 2007, 221 S., ISBN 978-3-8329-2692-2, EUR 49,00
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1. Zwei Begriffsklärungen sind vorweg sinnvoll:
a) Unter 'positivem Recht' seien verstanden: Schriftlich oder sonst dauerhaft von dazu in irgendeiner Weise legitimierten Autoritäten festgelegte, für die Ordnung des Lebens in größeren gesellschaftlichen Geltungsbereichen geschaffene Regelsysteme. Sie wollen zumeist nicht kodifikatorisch 'alles' Regelungsbedürftige in ihrem Geltungsbereich regeln. Aber selbst wenn sie es wollen, so sind sie dennoch - gemessen an einem immer wieder veränderten Regelungsbedarf - 'unzureichend' und werden sich in ihrem Regelungsbestande immer wieder einmal als veraltet, in sich widersprüchlich und bestimmten gesellschaftlichen Anforderungen nicht gerecht werdend erweisen.
'Positives Recht' in diesem Sinne gab es in der Antike und es gibt es heute, und zwar in verschiedenartigen, mit ihren Traditionen positiven Rechts stark in der Antike wurzelnden europäischen oder europäisch geprägten Rechtskulturen.
b) 'Naturrecht' lässt sich demgegenüber als ein Komplex bei der Rechtsanwendung gelegentlich vorausgesetzter, nicht notwendig 'positivierter' normativer Grundsätze verstehen. Das 'Naturrecht' ist insoweit ein Teilbereich eines größeren Komplexes nicht positivierter Rechtsregeln, die teils einen regionalen, teils einen volks- oder staatsbezogenen Geltungsbereich, teils aber auch einen 'menschheitsumfassenden' Charakter haben. Die 'menschheitsumfassende Geltung' wird als in der Existenz der Menschheit mitgegebene Anlage zu einem geregelten menschlichen Miteinander - einschließlich des Miteinanders verschiedener Menschengesellschaften - verstanden.
Auch ein solches 'Naturrecht' gab es schon in der rechtstheoretischen Wahrnehmung antiker Griechen und Römer, wie des Peripatetikers Aristoteles, des stoischen Philosophen Karneades oder des enzyklopädisch gebildeten Juristen und Politikers Cicero. Das, was wir heute als 'Naturrecht' verstehen, lässt sich in wichtigen Traditionslinien auf die Anschauungen derartiger antiker Denker zurückführen. Hinzu kommen religiöse Traditionen wie die des Christentums mit seiner Vorstellung von einer göttlichen Schöpfung.
2. Einen wesentlichen Beitrag nicht nur zur Entdeckung und systematischen Beschreibung dieser Traditionsbezüge eines 'Naturrechts', sondern auch zu ihrer systematisch-praktischen Erschließung für seine Zeit hat Hugo Grotius (1583-1642) mit seinen Schriften 'De iure praedae commentarius' (Über das Recht, Beute zu machen, 1604) und besonders 'De iure belli ac pacis' (Über das Kriegs- und Friedensrecht unter den Völkern, 1625) geleistet. Mit diesen Schriften ist er zu einem maßstabsetzenden theoretischen Begründer 'neuzeitlicher' Völkerrechtslehre geworden.
3. Die Arbeit von Straumann wendet sich den antiken Grundkonzeptionen des Naturrechts in ihren wichtigen Momenten insoweit zu, als Grotius sie aufgegriffen und weiterverarbeitet hat. Er überprüft und verdeutlicht dabei die grotianische Neukonstruktion eines Völkerrechts auf antiker Basis, und zwar antiken Rechts ebenso wie antiker ethischer Philosophie.
Straumann hat, wie gesagt, nicht alle Momente einer antiken 'Vorform' neuzeitlichen Völkerrechts erörtern wollen, sondern nur die von Grotius entdeckten und in seinen Werken fortentwickelten Ethik- und Rechtsaspekte antiken Denkens, welche für die grotianische Epoche Bedeutung hatten. Das ist die Epoche, in der sich der Kolonialismus der europäischen Mächte - einschließlich der Ende des 16. Jahrhunderts unabhängig gewordenen Niederlande - erobernd in der Welt zu entfalten und miteinander in Konkurrenz zu stehen begann, als sich eine 'moderne', d.h. nachmittelalterliche Staatlichkeit und Rechtlichkeit gegen mittelalterliche christlich-kirchliche Auffassungen von der Weltordnung durchzusetzen und insoweit zu 'säkularisieren' begann und in der - vor allem im Dreißigjährigen Kriege - ein europäisches Staatensystem mit 'Souveränitäts'-Ambitionen der einzelnen Staaten und ihrer jeweils ganz 'selbstbestimmten' Kriegs- und Friedenspolitik Kontur gewann. Straumann weist in seinem Buch u.a. nach, wie sich in Grotius' Völkerrechtswerk auch die kriegs- und friedenspolitischen Interessen seiner Auftraggeber oder Dienstherren, sei es der niederländischen Generalstände, sei es der Königin Christine von Schweden, argumentativ berücksichtigt finden.
Der Autor legt in einer Einleitung zunächst seinen Forschungsansatz, den Nachweis einer weitgehend antiken Fundierung frühneuzeitlichen Völkerrechts, dar.
In einem ersten Teil seines Buchs erörtert er dann Grotius' Werk 'De iure praedae'. Dort stellt er zusammenfassend die von Grotius verwendeten antiken Quellen und Wissenschaftsgebiete (einschließlich der Rhetorik) dar und befasst sich sodann mit Grotius' schon früh entwickelten zentralen, seiner Gegenwart geltenden Ideen über eine nicht strikt gesetzesgebundene ('ausgleichende') Gerechtigkeit, über einen 'Naturzustand der menschlichen Gesamtgesellschaft', über die 'Freiheit der Meere', über die 'uneingeschränkte Handelsfreiheit', über das unbegrenzte 'Eigentumsrecht' und über das gesetzlich unabgesicherte, aber dennoch mögliche 'Vertragsrecht' im friedlichen 'internationalen' Verkehr. Ferner werden Grotius' Konzepte eines 'Selbstverteidigungsrechts' und anderer Kriegsführungsrechte sowie einer 'gerechten Kriegführung' erörtert.
In einem zweiten Teil geht es um Grotius' großes späteres Werk 'De iure belli ac pacis', das eine Systematisierung der von ihm früher entwickelten Völkerrechtskonzepte enthält. Erörtert werden zunächst Grotius' systematischer Ansatz einer Rechtsquellenlehre, die Bedeutung einer (antik-)rhetorisch üblichen Argumentationsweise in der Völkerrechtslehre, die Normableitung aus 'reiner Vernunft' (also nicht aus positivem Gesetz) und die Beweismöglichkeiten für die Normrichtigkeit aus historischen, philosophischen und jurisprudentiellen Erkenntnissen, wobei er jeweils den Antikenbezug mit erörtert. In weiteren Kapiteln behandelt der Autor dann speziell den besonderen Beitrag der stoischen Philosophie, der Gelehrsamkeit Ciceros sowie der römischen Jurisprudenz generell (mit ihren Grundvorstellungen von Eigentum, Vertrag und Strafe) zum grotianischen System.
Straumanns gedankenreiches Buch - eine Dissertation - ist in seiner weitgespannten, von der Antike bis zur Frühen Neuzeit reichenden, allgemein- und rechtshistorische Kenntnisse und Fähigkeiten besonderer Art voraussetzenden Thematik und in seinem fruchtbar gewordenen Forschungsansatz anerkennenswert.
4. Es sollte, wie erwähnt, nicht Fragen beantworten, die die spätere neuzeitliche Fortwirkung der gesamten antiken Naturrechtslehre - sei es auf dem Weg über die grotianische Völkerrechtslehre, sei es neben ihr her oder auch ganz außerhalb ihrer - betreffen. Dazu seien hier deshalb noch einige Bemerkungen gemacht:
a) Die Bedeutung antiker Naturrechtsvorstellungen für die Neuzeit geht einerseits über den Bereich des 'Völkerrechts' weit hinaus. Sie äußert sich etwa in der neuzeitlichen Legitimation von 'Menschenrechten', in der normativen Rechtfertigung revolutionärer Umstürze von fest etablierten positiv-rechtlich abgesicherten Staatsordnungen, in der Begründung eines - (selbst bei verfassungsmäßiger Anerkennung wie in Art. 20, Abs. 4 GG) genau genommen mit einer etablierten positiven Rechtsordnung unverträglichen - 'Widerstandsrechts', ja sogar in der Rechtfertigung politischer Attentate und anderer 'direkter Aktionen' (Beispiel: 20. Juli 1944). Ferner können Naturrechtsnormen eine unterstützende oder verändernde Bedeutung bei der Interpretation positiver Rechtsnormen erlangen, so in den Generalklauseln des Rechts wie § 242 BGB ('gute Sitten') oder Art. 14, Abs. 2 GG ('Allgemeinwohlbindung des Eigentums').
b) Was andererseits die heute sich stellenden - und gegenüber der grotianischen Epoche sich neu stellenden - Grundsatzfragen des Völkerrechts selbst betrifft, können generell, wie es scheint, für deren Beantwortung nur 'Naturrechts'-Ideen eine tragfähige Legitimation geben. Damit ist jeweils auch ein unmittelbarer argumentativer Rückgriff auf die Antike ratsam, welcher heute zu anderen Ergebnissen führen kann als bei Grotius. Das grotianische Völkerrechtssystem ist im Laufe der jüngeren Neuzeit in wichtigen Fragen als nicht mehr zureichend angesehen und durch internationale Verträge schon des frühen 20. Jahrhunderts modifiziert worden. Auch diese haben auf antike Grundlagen, etwa des Christentums oder der antiken Philosophie, zurückgegriffen, was hier nicht genauer dargelegt werden kann. So geben zum Beispiel in heutiger Zeit gewonnene Kriege keinerlei Berechtigung zur Aneignung fremdstaatlichen Territoriums, die Kriegsgewalt ist begrenzt und das Selbstbestimmungsrecht der Völker widerspricht der Vertreibung und Terrorisierung von Zivilbevölkerungen durch kriegführende Parteien; auch Rachekriege sind völkerrechtlich seit Langem nicht mehr erlaubt.
Christian Gizewski