Kulturstiftung der Länder (Hg.): Eine Heiligenfigur der Goldenen Tafel aus St. Michael zu Lüneburg, Hannover: Niedersächsisches Landesmuseum Hannover 2007, 155 S., ISBN 978-3-929444-33-9, EUR 9,00
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Anlässlich des Ankaufs einer im Frühjahr 2007 im Kunsthandel aufgetauchten weiblichen Heiligenfigur für das Niedersächsische Landesmuseum in Hannover erschien ein Aufsatzsammelband über die sogenannte Goldene Tafel, das ehemals im Hochchor des Michaeliskloster in Lüneburg aufgestellte Altarretabel, zu dessen Bestand die Figur ursprünglich gehörte.
Die Figur ergänzt im Landesmuseum das fragmentarisch erhaltene, ursprünglich doppelflügelige Retabel, das seit 1532 nicht mehr im liturgischen Kontext genutzt wurde, und das seit Ende des 18. Jahrhunderts an unterschiedliche Orte verkauft und verteilt worden war. Die heute im Landesmuseum befindlichen Flügel zeigen auf der Außenseite eine typologische Gegenüberstellung der Errichtung der Ehernen Schlange und der Kreuzigung Christi. Die erste Wandlung breitet vor dem Betrachter einen Zyklus der Heilsgeschichte von der Verkündigung bis zur Krönung Mariä aus. Im geöffneten Zustand bildete - wie ein um 1700 entstandener Kupferstich belegt - das Zentrum ursprünglich eine ältere Goldtreibarbeit mit einer von narrativen Szenen umgebenen Majestas Domini, vermutlich ein Antependium des 12. Jahrhunderts. Dieses Antependium rahmten ursprünglich 22 Gefache, welche unterschiedliche Reliquiare und als wertvoll erachtete Objekte, wie liturgisches Gerät und Bücher, bargen, während auf den erhaltenen Innenflügeln jeweils zwei Reihen von geschnitzten Heiligenfiguren erscheinen. In der strebepfeilerartigen Architektur zwischen diesen Heiligenfiguren waren ursprünglich 12 weitere weibliche Figuren eingestellt. Seit dem Ankauf der Heiligenfigur befinden sich nun wieder sechs an ihrem ursprünglichen Platz.
Obwohl das Retabel seit dem 19. Jahrhundert in der Forschung diskutiert, dabei stets seine Bedeutung und Qualität betont wurde, fand es in der jüngeren Forschung eher wenig Beachtung. So beschränkt sich Norbert Wolf (2002) in seiner grundlegenden Untersuchung zu den deutschen Schnitzretabeln auf wenige Aussagen zu seiner Programmatik. [1] Dabei scheint das doppelflügelige Retabel mit der Verbindung von Malerei und Skulptur als umgebendes "Gehäuse" für die im Zentrum bewahrten Reliquiare und die als Spolie (oder nach Norbert Wolf "Objekt-Reliquie") eingefügte Goldtreibarbeit ein geradezu ideales Beispiel für die in den letzten Jahren in der Forschung diskutierten Fragen zur Inszenierung des wandelbaren Altarretabels, zur medialen Vermittlung der am Altar vollzogenen Wandlung der Eucharistie oder zur Frage der Präsenz von Heiligkeit und ihrer Inszenierung im Bildwerk.
Im vorliegenden Band gibt Peter Steckhan (9-21) einen Überblick zur Entstehung und Entwicklung der Stadt Lüneburg und des Michaelis-Klosters. In Mitgliedern des welfischen Fürstenhauses, das eng mit der Historie des Klosters verknüpft war und eine Grablege in der Kirche besaß, vermutet Steckhan die Stifter der Goldenen Tafel. Deren Funktion sieht er so vor allem im Kontext von Machtanspruch, Repräsentation und Gedächtnis des welfischen Fürstenhauses, eingebunden in ein Stiftungsensemble, das deutliche Verweise zum Braunschweiger Blasiusstift aufweist, dem zweiten zentralen Memorialort der Welfen.
Thomas Andratschke (23-33) rekonstruiert die Provenienz- bzw. Verlustgeschichte der im Dezember 2007 wieder in das Retabel eingefügten Heiligenfigur. Götz J. Pfeiffer (35-43) arbeitet die Forschungsgeschichte zum Retabel, insbesondere zur Malerei, auf und benennt als Desiderat die gattungsübergreifende Sicht auf das Gesamtwerk. Wobei er selbst in der Folge insbesondere die stilgeschichtliche Einordnung der Malerei verfolgt, Vermutungen nach der Beteiligung mehrerer führender Meister an der Malerei zurückweist und Bezüge zu Kölner Malerwerkstätten aufzeigt.
Hartmut Krohm (79-103) wendet sich schwerpunktmäßig der angekauften Heiligenstatuette, der Rekonstruktion des skulpturalen Programms und den architektonischen Zierformen des Retabels zu. Auch Krohm verfolgt dabei die Frage der stilistischen Herkunft; Verbindungen zieht er dabei zu französischen und niederländischen Werken um 1400 und erwägt dabei die Möglichkeit eines Imports. Für die Klärung offener Forschungsfragen zur Entstehung und Konzeption des Retabels betont er insbesondere die Notwendigkeit kunsttechnologischer und naturwissenschaftlicher Untersuchungen.
Regine Marth (105-113) befasst sich mit den überlieferten Reliquienstiftungen an das Michaeliskloster und bespricht einzelne erhaltene Reliquiare und Objekte, die sich im Schrein des Retabels befunden hatten.
Der abschließende Beitrag von Babette Hartwieg, Iris Herpers und Kirsten Hinderer (115-134) resümiert eindringlich den problematischen Erhaltungszustand von Malerei, Skulptur und architektonischer Rahmung der Goldenen Tafel und beschreibt eine umfassende und interdisziplinär angelegte Projektplanung, die neben der Konservierung, Restaurierung eine kunsttechnologische und kunsthistorische Erforschung der Tafel anstrebt.
Der hier vorliegende Band will neben einem kritischen Resümee des aktuellen Forschungsstands vor allem Aufmerksamkeit für das Retabel wecken und dabei auf Forschungsdesiderate und ungeklärte Fragen hinweisen. Die Goldene Tafel ist zweifellos aufgrund ihrer Qualität, der historischen Hintergründe und des in vielen Punkten ungewöhnlichen Bildprogramms ein zentrales Werk, das für Fragen der Entwicklung, Funktion und Nutzung von Altarrebeln und Wandelretabeln ein lohnendes Forschungsobjekt darstellen würde. Dass der vorliegende Band das selbst angemahnte grundlegende Problem der bisherigen Forschung zur Goldenen Tafel weiterführt, muss dabei kritisch angemerkt werden: Die strikte Trennung der Gattungen zieht zwangsläufig auch eine getrennte Sicht auf die einzelnen Wandlungszustände nach sich und verhindert so nicht nur eine Deutung des Gesamtprogramms des Retabels, sondern beschränkt ebenso die Wahrnehmung als ein im Kirchenraum und in seiner Funktion zu kontextualisierendes Werk. Es bleibt zu hoffen, dass das avisierte Forschungsprojekt durch die Überwindung der künstlich gezogenen Gattungsgrenzen die Chance nutzt, der Spezifik der Goldenen Tafel, die gerade auf die Verbindung und Zusammenschau dieser unterschiedlichen Medien ausgerichtet ist, gerecht zu werden und neben angeführten Fragestellungen auch theologische und rezeptionsästhetische Ansätze Berücksichtigung finden.
Anmerkung:
[1] Vgl. Norbert Wolf: Deutsche Schnitzretabel des 14. Jahrhunderts, Berlin 2002, 220-226, 303 f.
Susanne Wegmann