Rezension über:

Karin Fuchs: Zeichen und Wunder bei Guibert de Nogent. Kommunikation, Deutungen und Funktionalisierungen von Wundererzählungen im 12. Jahrhundert (= Pariser Historische Studien; Bd. 84), München: Oldenbourg 2008, VIII + 310 S., 4 Abb., ISBN 978-3-486-58292-5, EUR 44,80
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Uta Kleine
Historisches Institut, FernUniversität Hagen
Redaktionelle Betreuung:
Martina Giese
Empfohlene Zitierweise:
Uta Kleine: Rezension von: Karin Fuchs: Zeichen und Wunder bei Guibert de Nogent. Kommunikation, Deutungen und Funktionalisierungen von Wundererzählungen im 12. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/14946.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Karin Fuchs: Zeichen und Wunder bei Guibert de Nogent

Textgröße: A A A

Guibert von Nogent (gestorben um 1125), dessen Werk im Mittelpunkt der Zürcher Dissertation von Karin Fuchs steht, wird von der Nachwelt gern als derjenige mittelalterliche Autor wahrgenommen, der am schärfsten und am scharfsinnigsten gegen die Missstände im Heiligen- und Reliquienkult seiner Zeit polemisierte und dem vermeintlich naiven Wunderglauben seiner Zeit das kritische Instrument der Vernunft entgegensetzte. Gegen den mittelalterlichen 'Aufklärer' avant la lettre entwarf seit den 1970er Jahren die psychohistorische Forschung das Bild von Guibert, dem "Pionier des Irrationalen" (R. Moore), dem Moralisten und Neurotiker mit seinen Ängsten vor fleischlicher Sünde, Magie und Teufelswerk (J. F. Benton).

Urteile wie diese haben nicht zuletzt damit zu tun, dass Guibert bei aller vermeintlich in die Moderne vorausweisenden 'Rationalität' zugleich eine Vorliebe für teils finstere, teils derb-phantastische Wundererzählungen hegte und diese reichlich in sein Werk einflocht.

Karin Fuchs hat diese Wundererzählungen nun erstmals zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung gemacht. Vor dem Hintergrund einer polarisierten Guibert-Forschung tritt sie mit dem Anspruch an, die offensichtliche Komplexität und Widersprüchlichkeit im Werk Guiberts aufzudecken und, wo möglich, "aufzulösen" (2). Fuchs beschränkt ihre Studie auf eine Auswahl von vier Schriften: den Reliquientraktat (De sanctis et eorum pigneribus), die Monodiae, die Gesta Dei per Francos und das Marienlob (De laude sanctae Mariae).

Parallel zur Guibert-Forschung kann Fuchs an eine intensiv geführte Diskussion über Erscheinungsformen und Funktionen des mittelalterlichen Wunders anknüpfen. Hier will sie mit ihrem aus theologisch-historiographischen Überlieferungskontexten gewonnenen Material neue Akzente gegenüber einer Forschung setzen, die sich, so sieht es Fuchs, bislang auf das in genuin hagiographischer Literatur tradierte Wunder konzentriert habe und damit auf ein Umfeld, das von pragmatischen Interessen des Heiligenkultes und seiner Propaganda bestimmt war. Sie hingegen will, wie sie einleitend (Kapitel 1) darlegt, an Guibert und seinem Werk beispielhaft den intellektuellen Umgang mit dem Wunder im Umfeld der nordfranzösischen Frühscholastik nachzeichnen. Ihr Blick gilt dem geistigen Umfeld des Autors: seinem Lehrer Anselm von Bec/Canterbury, der Kathedralschule von Laon und jenem regionalen Netzwerk von Klerikern, in dem seine Werke verbreitet und kritisch diskutiert wurden. Diesen Pfad hat in seiner intellektuellen Guibert-Biographie von 2002 bereits J. Rubenstein vorgezeichnet. [1] Daher wählt Karin Fuchs nun statt eines textimmanenten einen 'kontextuellen' Ansatz: ihr geht es nicht um eine sozialhistorische Analyse von Textinhalten, sondern darum, ihre Texte, speziell die Wundererzählungen, in "soziale oder kommunikative Zusammenhänge [warum oder?] einzuordnen" (5).

Im Ergebnis bezieht Karin Fuchs eine klare Position: für Guibert, den "kritisch-rationalen Intellektuellen", der zwar Interventionen übernatürlicher Mächte nicht ausschloss, der aber versuchte, "sie rational zu fassen und einzuordnen" (253). Zu diesem Schluss kommt Fuchs in fünf Schritten. Zunächst untersucht sie Guiberts Wunderverständnis auf der theoretisch-begrifflichen Ebene. Guibert versteht Wunder traditionell-augustinisch als Ereignisse zeichenhaften Charakters contra usum naturae. Er versucht sich nicht an neuen ursächlichen Erklärungen und begrifflichen Schärfungen, sondern fragt vielmehr pragmatisch, anhand welcher Kriterien der Beobachter ein außergewöhnliches Ereignis als ein 'echtes' Wunder identifizieren und von falschen Wundern unterscheiden kann. Hierzu formuliert Guibert ein systematisches Merkmalsbündel, bei dem der Aspekt der moralischen Disposition (sowohl bei den heiligen 'Wundervermittlern' als auch bei den irdischen 'Wunderempfängern') eine zentrale Rolle einnimmt.

Im Zentrum des folgenden Kapitels steht das räumlich-soziale Umfeld der Wunder. Hierzu wertet Fuchs Zeugen- und Ortsangaben der Wundererzählungen aus und kann diese so in drei mit Guibert eng verbundenen sozialen Kreisen verorten: dem regionalen Adel (hier dominieren exempelhafte Strafwunder), den eigenen oder benachbarten Klostergemeinschaften (hier werden moralische Verfehlungen gebrandmarkt und positive Verhaltensexempla vorgeführt) und dem regionalen Weltklerus.

In den letzten beiden Kapiteln wird das Wunder im Kontext von Schriften untersucht: zunächst geht es um den narrativen Zusammenhang und die rhetorischen Funktionen der Wunder innerhalb von Guiberts Werken (Kapitel 4), anschließend um ihre Rezeption in den Schriften von Guiberts Zeitgenossen (Kapitel 5). Aufschlussreich sind die Beobachtungen zum ersten Punkt. So machen die Wunder ein Fünftel des Gesamtumfangs der Monodiae aus; sie finden sich, zu Serien gebündelt, meist am Ende von Erzählabschnitten oder an Brüchen der Handlung. Fuchs unterscheidet zwei Kompositionsprinzipien. Während in den historischen Werken die Wunder "assoziativ-digressorisch" gereiht werden und als Verhaltensexempel fungieren, werden sie in den theologischen Schriften eher argumentativ-persuasiv eingesetzt. Dass Guibert vor allem die Glaubhaftigkeit von Wundern der Konkurrenten aus Saint-Médard in Soissons kritisierte, während er selbst sie eifrig sammelte, ist eine hübsche Pointe. Ob er in dieser Auseinandersetzung tatsächlich mit seinen selbst entwickelten Vernunftkriterien argumentierte und, falls ja, inwiefern er auch seinen eigenen Umgang mit dem Wunder hieran ausrichtete, wird allerdings nicht erörtert. Zum Beleg für Guiberts rational-kritisches Wunderverständnis verweist Fuchs vielmehr auf sein Bemühen um präzise Orts- und Zeugennennungen.

Der letzte Teil der Arbeit befasst sich mit der Wirkung von Guiberts Wundern: Wurden sie gelesen, und insbesondere, wurde seine Kritik aufgenommen? Hierzu untersucht Fuchs die späteren, bislang unedierten Überarbeitungen des Wunderbuches aus Saint-Médard und kann erkennen, dass dies durchaus der Fall war, da von Guibert kritisierte Wunder später teilweise gestrichen wurden. Ein Anhang mit Transkriptionen aus den untersuchten Handschriften macht ihre überlieferungskritischen Ausführungen nachvollziehbar; ein Register erleichtert die Benutzung.

In Bezug auf ihren zentralen Gegenstand vertritt Karin Fuchs einen klaren Standpunkt: Sie versteht das Wunder nicht als Ereignistyp, sondern als toposhaften "Textbaustein" (11) (unglaubwürdig, selbstreferentiell) und müht sich um eine typologische Abgrenzung von "weiteren Elementen, beispielsweise solchen, die in der Forschung als faktenbezogen interpretiert werden" (11) - also von einer historisch glaubwürdigen Rahmenerzählung. Hierbei wird nicht recht deutlich, von welchen formalen oder inhaltlichen Urteilskriterien sich Fuchs leiten lässt, wenn sie die verstreuten Geschichten zu einer eigenen Erzählgattung ("Wunder") zusammenfasst und dieser Gattung die problematische Kategorie der "faktenbezogenen" Narration gegenüberstellt. Viele der von ihr vorgetragenen Fakten sind eben nur aus den Wundergeschichten selbst zu gewinnen. Der methodischen Aporie, die darin besteht, Schriftkontexte ohne Rekurs auf Schriftinhalte rekonstruieren zu wollen, begegnet Fuchs mit einem aus der strukturalistischen Linguistik geborgten Methoden- und Begriffsapparat, der sich allzu oft als Ballast erweist - gerade dort, wo es ihr um genuin sozialhistorische Fragen geht: "Die Frage nach den Quellenverweisen ist in den größeren Kontext der Inbezugsetzung des Inhalts einer Erzählung mit einer außertextlichen Realität zu stellen" (95, ähnlich 139). Es ist zu vermuten, dass der Rückgriff auf die längst überwundene Saussuresche Referenzproblematik etwas mit dem in der Forschung immer noch verbreiteten Unbehagen zu tun hat, den Inhalt der Mirakelerzählungen historisch ernst zu nehmen.

Auch Fuchs' Wahrnehmung des Forschungshorizontes fordert Kritik heraus. So ist es keineswegs richtig, dass Wunder bislang ausschließlich in hagiographisch-kultischem Umfeld untersucht wurden, im Gegenteil: der Trend der Mirakelforschung geht in Richtung Universalisierung und Rationalisierung des Wunders. So zeigen die Untersuchungen zu Mirakeln in der Geschichtsschreibung (Chr. Dartmann), in der Naturphilosophie (L. Daston/ K. Park), der Enzyklopädik und der höfischen Unterhaltungsliteratur (M. Rothmann), dass Wunder als soziale Tatsachen mit zeichenhafter Bedeutung ernst genommen werden müssen (C. Bynum). Betont werden ihr epistemologisches Potential, ihre universale Reichweite als vormodernes Denk- und Deutungsmuster, und ihre Verankerung in der Erfahrungswelt einer intellektuellen Elite.

In diesem Forschungskontext hätte Karin Fuchs ihre Ergebnisse gut verorten können, wodurch auch der bei ihr und anderen recht unkritisch gehandhabte Rationalitätsbegriff an Substanz und historischer Tiefenschärfe gewonnen hätte. Doch obwohl Fuchs die meisten der genannten Arbeiten durchaus zur Kenntnis genommen hat, hat sie diese Ansätze selbst nicht produktiv verarbeitet. Auch auf einen Vergleich mit J. Rubensteins intellektueller Neubewertung Guiberts verzichtet sie. Das ist bedauerlich, denn so erschließt sich die Relevanz ihrer Ergebnisse nur einer Leserschaft mit dem nötigen Spezialwissen.


Anmerkung:

[1] Jay Rubenstein: Guibert of Nogent. Portrait of a Medieval Mind, London 2002.

Uta Kleine