Marcus von Salisch: Treue Deserteure. Das kursächsische Militär und der Siebenjährige Krieg (= Militärgeschichtliche Studien; Bd. 41), München: Oldenbourg 2009, X + 336 S., ISBN 978-3-486-58805-7, EUR 24,80
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Es war ein in seiner Dimension bis dahin unbekannter, ja ein unerhörter Vorgang in der Zeit des Ancien Régime: Im Oktober 1756 zwang König Friedrich II. von Preußen sämtliche sächsische Soldaten, derer er habhaft werden konnte, Unteroffiziere und Gemeine, in seine Armee. Damit, so hat er gehofft - und so haben viele geglaubt, sei ein Gegner gleich zu Beginn des Siebenjährigen Krieges außer Gefecht gesetzt worden. Durch diese Maßnahme, dachte Friedrich, hätte er seine Truppenbasis für den kommenden Konflikt erheblich verstärkt. Doch es kam anders.
Marcus von Salisch hat sich in seiner an der Universität der Bundeswehr, München, bei Walter Demel entstandenen Dissertation den Vorgang der Eingliederung der Sachsen in das friderizianische Heer und ihre Reaktion darauf im Licht der "dürftigen Literaturlage und der umfangreichen Quellenbasis" (8) noch einmal weitflächig angeschaut. Er hat die vorhandenen Akten im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden und im Geheimen Staatsarchiv zu Berlin Preußischer Kulturbesitz ausgewertet und stichprobenartig auch die des Kriegsarchivs in Wien.
Die Arbeit gliedert sich in acht Kapitel. Auf die knappe Einleitung, die das Interesse der Arbeit, deren Ziel sowie den Forschungsstand umreißt und auf jede Theoriebildung verzichtet (1-9), folgt das für den Kontext der Untersuchung wichtige Hintergrundkapitel "Sachsen und die Vorgeschichte des Siebenjährigen Krieges" (11-53). Kern dieses Kapitels sind Salischs Ausführungen zu Friedrich August Graf zu Rutowski, dem Sohn Augusts des Starken und der Türkin Fatima und Generalfeldmarschall der sächsischen Armee. Rutowski war ein erfahrener und fähiger General mit "erstaunlich human-aufgeklärten Zügen" (40). 1756 wurde er als Heerführer ein Opfer der Verhältnisse: der Priorität, die die sächsische Neutralitätsdiplomatie vor den Interessen der Armee genoss, und der schlechten finanziellen Situation, in der sich Sachsen nach den Schlesischen Kriegen befand. Diese Zwangslage führte zu einer "stetigen Reduzierung des Militäretats" (46). Die Heeresstärke verringerte sich von angeblich 60.000 Soldaten im Jahr 1745 auf "weniger als 25.000" im Jahr 1756 (48). Die Zahl macht deutlich, dass die sächsische Armee der preußischen im Feld nicht gewachsen war.
Wie also auf die preußischen Rüstungen des Jahres 1756 reagieren? Salisch untersucht dies im Kapitel "Das Lager bei Pirna" (55-137). Der Dresdner Hof setzte auf Abwarten und neutrales Verhalten. Und Rutowski als verantwortlicher Militärführer musste seine Überlegungen an dieser Politik ausrichten. Immer wieder bat er August III. und seinen Premierminister Graf Brühl, Maßregeln zu ergreifen, die "die Sicherheit des Landes" und "die conservation der Armee" erforderten (59ff.). Seine Überlegungen gingen dahin, so lassen sich Salischs Ausführungen zusammenfassen, das sächsische Heer zu erhalten - und zwar vor allem als ein Faktor, der Sachsen in der Politik der europäischen Mächte eine eigenständige Rolle zuwies. Dafür wollte Rutowski die Armee im Lager bei Pirna, einer strategisch gut gewählten, schwierig einzunehmenden Stellung zusammenziehen. Dies geschah gerade noch, bevor die preußischen Truppen in Sachsen einrückten. Die Position dort, so die Idee, erlaubte sowohl Verhandlungen mit Friedrich II. als auch den Anschluss an die Armee Österreichs.
Das Problem des Lagers war jedoch dessen unzureichende Versorgung, die der mangelnden Gesamtstrategie und Abstimmung zwischen der politischen Leitung und der Militärführung Sachsens geschuldet war. Die Kapitulation der Armee war deshalb nur eine Frage der Zeit. Das Lager wurde trotz seiner günstigen Lage zur Falle, eben weil es keinen politisch-militärischen Verfahrensplan gab (78-83).
Bereits einen Tag nach der Kapitulation der Sachsen am 16. Oktober 1756 begann die preußische Heerführung damit, die gefangenen Soldaten und Unteroffiziere, die man von ihren Offizieren getrennt hatte, in die Reihen der Preußen einzugliedern. Salisch untersucht diesen Vorgang im Kapitel "Sächsische Soldaten in preußischen Diensten - Fahnenflucht und Zwangsrekrutierungen" (139-183). Die sächsischen Soldaten wurden regimentweise in einen Kreis preußischer Truppen geführt und sollten dort den Eid auf den König von Preußen schwören. Einige taten dies, andere nicht, die Garderegimenter verweigerten sämtlich den Eid. Schon bald begann die Flucht der Sachsen. Die Männer setzten sich einzeln und in Gruppen ab, sogar ganze Truppenteile flohen unter Anführung ihrer Unteroffiziere nach Böhmen oder Polen. Von den rund 18.500 gefangen genommenen Sachsen standen im November 1756 nur noch rund 5.000 in preußischen Diensten (143).
Als Gründe für die Flucht kann Salisch folgende ausmachen (141-155): Gewaltanwendung der Preußen, nicht eingehaltene Versprechen der Preußen (Verpflegung, Handgeld), mangelnde Identifizierung mit dem preußischen König und seiner Sache: "Mein Verlangen ist nach Prag um mich bey dem allda seyenden Sächs. Officier zu melden und unsern Dienst unserm allergnädigsten König zu offerieren", schrieb ein sächsischer Kavallerist, der mit "42 berittenen Getreuen" nach Böhmen geflohen war (145), verletzter Stolz, die Frage der Ehre, mangelnde Wachsamkeit der Preußen, Aufforderungen der Zivilbevölkerung, aus dem preußischen Dienst zu entweichen. Es ist ein Bild, das sich, sieht man von der Frage der eigenen Ehre und der Treue zum eigenen König ab, mit den Ergebnissen Michael Sikoras zur Desertionsproblematik deckt (155). [1]
Doch nicht alle Sachsen dachten patriotisch und entzogen sich dem preußischen Dienst. Wenn auch von den zehn aus den sächsischen Truppen neugebildeten preußischen Regimentern nur zwei das Ende des Krieges erlebten - die anderen acht wurden aufgelöst, ihre verbliebenen Soldaten unter preußische Regimenter verteilt - so erhielten die preußischen Freiregimenter doch ziemlichen Zulauf sächsischer Untertanen (162-170). Den Kommandeuren dieser leichten Truppe gelang es ohne Probleme immer wieder Rekruten im Kurfürstentum anzuwerben.
Die nach Böhmen, Polen, Bayern entkommenen Soldaten wurden als "sächsische Truppen" gesammelt, um nach ihrer Neuorganisation und Ausbildung als sächsisches Korps innerhalb der französischen Armee (Infanterie) und der österreichischen Armee (Kavallerie, vor allem die vier bei der Kapitulation von Pirna in Polen stehenden Regimenter) gegen Preußen eingesetzt zu werden (Das "Sammlungswerk" - Ziele der sächsischen Flüchtlinge, 185-269). Verbunden ist das Sammlungswerk vor allem mit Prinz Xaver von Sachsen, einem Sohn des Kurfürsten-Königs. Salisch beschreibt die Organisation des Sammlungswerks und den Einsatz der neuformierten Truppen und analysiert die Schwierigkeiten der sächsischen Politik und des sächsischen Militärs, sich gegenüber den Interessen Frankreichs und Österreichs zu behaupten (189-203). Dies war notwendig, denn: "Nachdem das Neutralitätskonzept Brühls [...] gescheitert war, konnte Sachsen in einer zukünftigen Friedensordnung nur dann eine gewichtigere und aktivere Rolle spielen, wenn es sich dabei auf ein schlagkräftigeres Heer als im Jahre 1756 stützen konnte." (210).
Doch ging diese Rechnung im Hubertusburger Frieden 1763 nicht auf, weil die Alliierten und damit auch Sachsen keines ihrer Kriegsziele erreichten. Sachsen spielte in der europäischen Politik des ausgehenden 18. Jahrhunderts keine wesentliche Rolle mehr. Für das Selbstverständnis der sächsischen Soldaten, für die Reorganisation der Truppen, auch für die Bewusstseinslage der Bevölkerung war der Einsatz eines eigenen Korps im Krieg gegen Preußen jedoch bedeutsam. Wenn auch, wie Salisch erläutert, mangels finanzieller Mittel die vom neuen Befehlshaber der sächsischen Armee gewünschte Neuordnung nur in Ansätzen verwirklicht werden konnte (Kriegsende und Ansätze zum Neuaufbau des Heeres, 271-285.)
Eine Zusammenfassung, ein Anhang über die sächsisch-preußischen Regimenter, Quellen- und Literaturverzeichnis und ein Personenregister beschließen den Band, der einen wichtigen Einblick in den Funktionszusammenhang von Militär und Politik in der Mitte des 18. Jahrhunderts ermöglicht.
Anmerkung:
Michael Sikora: Disziplin und Desertion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert, Berlin 1996 (= Historische Forschungen, Bd. 57).
Jürgen Luh