Landschaftsverband Rheinland / Rheinisches Industriemuseum (Hgg.): St. Antony. Die Wiege der Ruhrindustrie. Ein 'Wirtschaftskrimi' um die erste Eisenhütte im Revier, Münster: Aschendorff 2008, 171 S., ISBN 978-3-402-12764-3, EUR 14,90
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In Nordrhein-Westfalen wirft das Jahr der Europäischen Kulturhauptstadt, die "Ruhr2010", weite Schatten voraus. Das zeigen die Bestrebungen des vom Landschaftsverband Rheinland getragenen Rheinischen Industriemuseums, das, wissenschaftlich gut abgestützt, mit erheblichem Aufwand durch eine Dauerausstellung und durch die Präsentation der Befunde industriearchäologischer Grabungen an die erste Eisenhütte des später sogenannten "Ruhrgebiets" im Oberhausener Stadtteil Osterfeld erinnern möchte. Das Museum hat damit traditionsstiftend bzw. -verstärkend einen Bogen von 1758, dem Jahr der ersten Hochofenkampagne, zum 250-jährigen Jubiläum in das Jahr 2008 gespannt, in dem die Rechtsnachfolgerin, die MAN AG, neben der Förderung der permanenten Präsentation im geschichtlich bedeutsamen Wohngebäude des ehemaligen Hüttendirektors von St. Antony übrigens auch zahlreiche eigenständige Aktivitäten entwickelte.
Vor allem aber plant das Museum bis in das Jahr 2010. Dann wird unter einem "Segel aus Stahl" das benachbarte Grabungsfeld mit den Überresten der ehemaligen Eisenhütte einem sehr großen Publikum, das zur "Ruhr2010" erwartet werden darf, zugänglich gemacht. 23 Millionen Menschen strömen jährlich nach Oberhausen - 2010 werden es noch deutlich mehr sein. Dies ist Grund genug, als Europäische Kulturhauptstadt respektive -region etwas ganz Besonderes zu bieten: Vermutlich deshalb präsentiert der Landschaftsverband Rheinland 'just in time' die Ergebnisse der ersten industriearchäologischen Grabung im Ruhrgebiet - also dort, wo es sich nach den industriegeschichtlich bedeutsamen Überresten der "Wiege der Ruhrindustrie" im Erdreich zu suchen lohnte.
Das Begleitbuch zur Dauerausstellung wurde von Thomas Schleper und Burkhard Zeppenfeld konzipiert. Deutlich merkt man der 171 Seiten umfassenden Veröffentlichung auf den ersten circa 90 Seiten an, dass St. Antony gleichsam wie ein Ursprungsmythos als "Wiege der Ruhrindustrie" tief im öffentlichen Bewusstsein verankert werden soll, indem man dem Museumskomplex schon vorab den Titel eines "Rubins" des Rheinischen Industriemuseums verleiht (9).
Diese erkennbare Absicht wird nicht ungeschickt verfolgt. Denn mehrere Autoren stellen in kleinen, nicht mit Nachweisen versehenen Beiträgen zunächst die handelnden Personen vor und führen damit Persönlichkeiten wie Gottlob Jacobi, Helene Amalie Krupp, Friedrich August Alexander Eversmann und Franz Haniel ein. Deren Namen sind nicht nur Kennern der deutschen Technik- und Unternehmensgeschichte geläufig, sie stehen zum Teil für Innovationen oder bedeutsame staatliche Wirtschaftsförderung, vor allem aber werden sie mehrheitlich unmittelbar mit 'dem' Ruhrgebiet in Verbindung gebracht.
Auch der Fürstäbtissin von Essen, Maria Kunigunde von Sachsen, der St. Antony zeitweilig gehörte, ist ein kleiner Beitrag gewidmet. Vor allem aber wird der Domkapitular des Hochstifts Münster, Franz von Wenge, vorgestellt. Er hatte die Hütte beantragt, dann errichten und mit unterschiedlichem Erfolg betreiben lassen. Von sachlichem Gewicht ist der Text über seinen vermutlich wichtigsten Pächter: Johann Eberhard Pfandhöfer nämlich war eine überaus innovative Unternehmerpersönlichkeit, zugleich aber ein Abenteuerer, der zeitweilig auch die unterhalb der St. Antony-Hütte gelegene Hütte Gute Hoffnung erwerben konnte, sich allerdings 1797 der Zurückzahlung seiner immensen Schulden bei Helene Amalie Krupp durch Flucht entzog. Deren berühmter Urenkel Alfred Krupp schuf bekanntlich einen Weltkonzern - nach wie vor Synonym für Ruhrgebietsgeschichte schlechthin. Helene Amalie Krupp selbst wird von Ralf Stremmel freilich nicht durch eine biografische Skizze vorgestellt, sondern auf schmaler Quellenbasis durch ein fiktives Interview zum Sprechen gebracht. Dieses Vorgehen ist ein deutliches Indiz dafür, dass diejenigen historischen Persönlichkeiten, die in die Geschichte der St. Antony-Hütte während des 18. Jahrhunderts involviert waren, zwar jeweils für sich genommen als hochinteressant bezeichnet werden dürfen, allerdings die meistenteils spärliche Überlieferung, die sich auf ihr Wirken im Kontext der Hütte bezieht, offenbar nicht immer eine kurzbiografische Darstellung rechtfertigte. Insofern wird man an Schleper und Zeppenfeld die Frage stellen dürfen, ob für die Begründung und Vertiefung des Ursprungsmythos von der "Wiege der Ruhrindustrie" ein anderer Weg nicht einleuchtender gewesen wäre als der über eine Art von "name dropping".
Aus sachlich-systematischen Gründen hätte es vermutlich Vorteile besessen, Burkhard Zeppenfelds zentralen Beitrag innerhalb dieses Begleitbuches, das im Übrigen hervorragend und mit viel Sorgfalt bebildert worden ist, an den Beginn zu stellen. Unter dem Titel "Die Ereignisse: von der Gründung bis über die Schließung hinaus" (35-87) erzählt er in chronologischer Abfolge die Geschichte der naturräumlich vermeintlich unbegünstigten Region um Oberhausen, berichtet über die Suche nach dem Eisenerz und schildert die Ereignisse vom Beginn der Errichtung der Hütte bis zur ersten Schmelze. Einen Kern der Darstellung bildet der lange Weg zur Rentabilität St. Antonys, der allerdings von den in der unmittelbaren Nachbarschaft entstandenen Hütten "Gute Hoffnung" und "Neu-Essen" überlagert wurde. Jene sorgten als Konkurrenzunternehmungen anderer Landesherren in der Folge für erhebliche Schwierigkeiten. Ein eigenes Kapitel ist der Frage nach den Wasserrechten und den damit zusammen hängenden Streitigkeiten gewidmet. Einfühlsam beschreibt Zeppenfeld auch die Geschichte der drei Hütten in der Zeit vom Tode Wenges im Jahr 1788 bis zur Unterzeichnung eines Vertrages unterschiedlicher Eigentümer 1810. Sie schlossen sich zur Firma "Hüttengewerkschaft und Handlung Jacobi, Haniel & Huyssen" zusammen und legten damit das Fundament für den späteren Weltkonzern "Gutehoffnungshütte". Zeppenfeld schildert weiterhin die technischen Innovationen und Aufgaben von St. Antony in der Zeit von 1810 bis zum Ende der Produktion 1877 und beschließt seinen inspirierenden Beitrag mit der Vorstellung der dort hergestellten unterschiedlichsten Produkte für den täglichen Bedarf, für militärische Zwecke und als Zulieferer für den Maschinenbau (83-87).
Der ereignisgeschichtliche Block wird weitergeführt durch einen Beitrag zur Umnutzung von St. Antony zu Wohnzwecken. Dieser wird ergänzt durch impressive Fotografien. Der folgende Aufsatz schildert, wie sich die Gutehoffnungshütte im 19. und 20. Jahrhundert zum Weltkonzern entwickelte, gelegentlich aber auch herbe Rückschläge erleben musste. Der Vorstandsvorsitzende der MAN TURBO AG Klaus Stahlmann beschließt unter Rückbezug auf die traditionsreiche Unternehmensgeschichte und aktuelle Entwicklungen mit einem Ausblick in die Zukunft diesen langen Erzählstrang mehrerer Autoren zur Unternehmensgeschichte (zusammen 88-112).
Es spricht für die konzeptionell Verantwortlichen Schleper und Zeppenfeld, dass sie sich auch um einen kurzen Aufsatz zum in St. Antony verwandten und meistenteils aus dem Münsterland, vom Niederrhein und den Niederlanden stammenden Raseneisenerz bemüht haben. Der Geologe Alfred Dickhof erläutert dessen erdgeschichtliche Entstehungsgründe bzw. chemische Eigenschaften. Ergänzt wird dieser geologisch-technikgeschichtliche Themenblock durch gut verständliche Beiträge über die "Hochofentechnik zur Zeit der Industriellen Revolution" und über "Beginn und Entwicklung des Schmelzens im Kupolofen", die Manfred Toncourt und Carl-Heinz Caspers verfassten (zusammen 113-124).
Eine weitere Gruppe von Beiträgen widmet sich der Genese und den Ergebnissen der industriearchäologischen Grabungen, beginnend mit dem etwas längeren Aufsatz von Julia Obladen-Kauder (125-130), außerdem dem Sammlungsbestand der St. Antony-Hütte im Rheinischen Industriemuseum sowie dem Konzept und der Umsetzung der 2008 eröffneten Dauerausstellung (zusammen 125-142).
Roland Günter reflektiert am Ende des Bandes über den "Ursprungs-Mythos der St. Antony-Hütte" und macht deutlich, dass es zahlreicher Initiativen und bewusster Entscheidungen bedurfte, damit dieser mythische "Stern" künftig die rheinisch-westfälische Industrie-"Region" beleuchte und nunmehr ab 2008/2010 seine volle Strahlkraft entfalten möge (149). Thomas Schleper schließlich "erdet" die St. Antony-Hütte wieder, indem er sie im Hinblick auf ihre Bedeutung in ein Gesamtbild der Funktionen und Kontexte des Rheinischen Industriemuseums einordnet. Er bezeichnet sie als "eisernes Eintrittstor, als einen erzählerischen Prolog" (150) für die Geschichte einer Region, die sich selbst, ihre kulturelle Leistungsfähigkeit und insbesondere ihre in den historischen Museen sichtbar werdende wirtschaftlich-kulturelle Identität im europäischen Maßstab und vermutlich mit weltweiter Ausstrahlung zu zelebrieren anschickt (zusammen 143-164).
Mag sein, dass der auf den aller ersten Blick befremdlich wirkende Schlussbeitrag über das Weingut St. Antony, das allerdings - wie man erfährt - schon 1920 unter der Ägide der Gutehoffnungshütte seine ersten guten Tropfen produzierte, in diesem Kontext seine Berechtigung erfährt. Denn schon während des Jahres 2009 wird in Nordrhein-Westfalen, insbesondere in der Region "Ruhrgebiet", beginnend mit der Eröffnung des Emil Schumacher Museums und der Wiedereröffnung des Osthaus Museums in Hagen Ende August, vor allem dann aber 2010 ein Feuerwerk spektakulärer Kulturereignisse zu erwarten sein. Dass auch die Vollendung der musealen Revitalisierung der "Wiege der Ruhrindustrie" termingerecht für 2010 vorgesehen werden konnte, möge dann bei der Eröffnung dem für diese insgesamt vorzügliche, allerdings von Redundanzen nicht immer freie Publikation verantwortlichen Landschaftsverband Rheinland Anlass genug sein, mit einigen Flaschen vom Roten Hang bei Nierstein am Rhein in berechtigt guter Hoffnung auf viele Besucherrinnen und Besucher während der "Ruhr2010" kräftigst anzustoßen.
Eckhard Trox