Eleonor Hancock: Ernst Röhm. Hitler's SA Chief of Staff, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008, xiii + 273 S., ISBN 978-0-230-60402-5, GBP 42,50
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Angesichts der Tatsache, dass sich der sogenannte Röhm-Putsch dieser Tage zum 75. Mal jährte, ist es erstaunlich, dass zum "Namensgeber" dieses ebenso bedeutsamen wie gut erforschten Ereignisses, dem in der "Kampfzeit" und der Machtergreifungsphase so wichtigen Stabschef der SA Ernst Röhm bis dato nur zwei kürzere Porträts vorlagen. [1]
Die bisherige Zurückhaltung der Forschung ist nicht zuletzt auf die Quellenlage zurückzuführen. Nachdem die Nationalsozialisten Röhm ermordet hatten, beschlagnahmten sie seine persönlichen Akten. Der umfangreiche Bestand ist nach dem Krieg nicht wieder aufgetaucht. Diese Tatsache zwingt die australische Militärhistorikerin Eleanor Hancock dazu, ihre Quellen aus zahlreichen deutschen und ausländischen Archiven zusammenzutragen. Eine zentrale Rolle muss sie zudem der 1928 erschienenen und danach bis 1934 in mehreren Auflagen erweiterten Autobiografie Röhms einräumen [2], deren Aussagen sie aber wo immer möglich mit erhaltenen Parallelüberlieferungen abgleicht. Einige verbleibende Lücken etwa zu den so brisanten Jahren 1933 und 1934 werden wohl nie zu schließen sein, wie Hancock selbst freimütig einräumt (4-5).
Hancock hat ein mit insgesamt 179 Textseiten für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich knappes und nicht zuletzt deshalb gut lesbares Werk vorgelegt, das in Methodik und Gliederung ganz traditionell angelegt ist. Nach einer äußerst kurzen Einleitung wird Röhms Lebensweg in 14 teilweise etwas kleinteiligen Kapiteln nachgezeichnet. Auf diese folgt ein nicht minder knapper Schluss, in dem sich Hancock mit den Mythen auseinandersetzt, die sich um die Person Röhm ranken, und eine eigene Bewertung versucht.
Es gab im Leben Röhms zwei politisch zentrale Phasen: 1920 bis 1923 belieferte er als "Maschinengewehrkönig" von Bayern aus der Reichswehr heraus die rechte paramilitärische und antirepublikanische Szene mit Waffen und half sie zu organisieren. Dieser Lebensabschnitt endete mit dem Scheitern des Hitlerputsches, an dem Röhm aktiv teilnahm. In den Jahren 1931 bis 1934 organisierte er als Stabschef der SA den Sturmlauf der Nazis gegen die Weimarer Republik mit und half diese schließlich ins 'Dritte Reich' umzuformen. Über beide Abschnitte erfährt man bei Hancock insgesamt wenig Neues.
Bislang Unbekanntes kann sie dagegen zum jungen Röhm anbieten, der aus einer Beamtenfamilie stammte und sich nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums für eine Laufbahn als königlich-bayerischer Offizier entschied, die bis zum Ersten Weltkrieg unscheinbar verlief. Wohl in dieser Phase eignete sich Röhm einen bürgerlichen Habitus an, der unter anderem eine Liebe zur klassischen Musik und Literatur umfasste, den er trotz aller rhetorischen Referenzen an die NS-"Volksgemeinschaft" nie völlig ablegte und der zu dem von Röhm selbst gepflegten und noch immer weit verbreiteten Bild vom derben Landsknecht an der Spitze der proletarischen SA so gar nicht passt.
Erst im Weltkrieg konnte sich Röhm sowohl als äußerst tapferer Frontoffizier als auch nach mehreren schweren Verwundungen und Auszeichnungen als fähiger Organisator in der Etappe auszeichnen. Umso härter trafen ihn die deutsche Niederlage und die Novemberrevolution, die all seine Opfer als letztlich sinnlos erscheinen ließen, sein hohes Sozialprestige als Offizier infrage stellten und ihn somit politisierten und radikalisierten.
Neu ist auch das, was Hancock zu den Jahren 1924 bis 1930 zutage gefördert hat. In Berlin, wohin es ihn 1924 als Reichstagsabgeordneten der Nationalsozialistischen bzw. Deutschvölkischen Freiheitspartei verschlug, fand Röhm zu seiner homosexuellen Identität, die er trotz der allgemeinen gesellschaftlichen Ächtung sowie der Strafbewehrung des § 175 erstaunlich offen lebte, wie Hancock anhand einiger verblüffender Episoden belegen kann (89). Die Sexualität ist im Fall Röhm - im Gegensatz z.B. zum Fall Hitler [3] - von echter historischer Bedeutung, da sie mehrfach politisch relevant wurde - u.a. als die sozialdemokratische Presse 1931 bis 1932 eine entsprechende Schmutzkampagne gegen Röhm inszenierte, um der SA zu schaden, oder als die Nationalsozialisten sie 1934 nutzten, um die Ermordung Röhms zu legitimieren.
Nach dem Bruch mit Hitler, dessen primär parteipolitisch motiviertem Legalitätskurs Röhm 1925 nicht folgen wollte, versuchte sich Röhm in mehreren Berufen. Seine Erfolglosigkeit zwang ihn dazu, zunächst weiter bei seiner Mutter zu wohnen und 1928 der Anwerbung der bolivianischen Armee zu folgen, die ihm eine lukrative Stellung als Oberstleutnant und Militärberater anbot.
Diese Stellung gab Röhm 1930 auf, um dem Ruf Hitlers zurück in die nationalsozialistische Bewegung zu folgen, so wie er auch schon 1923 freiwillig den Dienst in der Reichswehr zugunsten seiner politischen Aktivitäten quittiert hatte. Dieser Sachverhalt passt schlecht zu Hancocks mehrfach vorgebrachter These, dass Röhm stets eher Soldat als Politiker gewesen sei. Problematisch ist diese Deutung auch deshalb, weil sie tendenziell Röhms Gewicht als NS-Täter ersten Ranges [4] verharmlost. Hier scheint Eleanor Hancocks Blick nicht nur durch die Anlehnung an die Selbstdeutung der Autobiografie, sondern auch durch die Tatsache getrübt, dass Röhm letztlich auch Opfer der Nazis wurde. Der Schlusssatz der Darstellung "He died like a soldier" (172) hinterlässt jedenfalls einen etwas problematischen Beigeschmack, den das ansonsten sehr sorgfältig gearbeitete und informative Werk insgesamt nicht verdient hat.
Anmerkungen:
[1] Zum sog. 'Röhm-Putsch' u.a. Heinz Höhne: Mordsache Röhm. Hitlers Durchbruch zur Alleinherrschaft 1933-1934, Hamburg 1984; zur Person Röhm bislang v.a. Joachim Fest: Ernst Röhm und die verlorene Generation, in: ders.: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, München 1963, 190-206; und Conan Fischer: Ernst Julius Röhm - Stabschef der SA und unentbehrlicher Außenseiter, in: Die braune Elite 1. 22 biografische Skizzen, hg. von Roland Smelser u.a., Darmstadt 41999, 212-222.
[2] Ernst Röhm: Die Geschichte eines Hochverräters, München 81934.
[3] Vgl. die sensationslüsternen, aber wenig ergiebigen Spekulationen in Lothar Machtan: Hitlers Geheimnis. Das Doppelleben eines Diktators, Berlin 2001; bzw. die "Enthüllungen" der britischen "Sun" und des deutschen "Spiegel" über Hitlers angebliche Teilkastration im Ersten Weltkrieg aus dem Jahr 2008.
[4] Zur Bedeutung und Brutalität der SA v.a. Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002.
Bastian Hein