Stefan Creuzberger: Stalin. Machtpolitiker und Ideologe, Stuttgart: W. Kohlhammer 2009, 343 S., ISBN 978-3-17-018280-6, EUR 19,80
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Während sich Stalin heute in Russland wieder hoher unkritischer Wertschätzung erfreut, die in auflagenstarken Publikationen zum Ausdruck kommt, sind sich die russischen Historiker, die ihr Urteil auf die seit den frühen neunziger Jahren zugänglichen Quellen stützen (wie Dmitrij Volkogonov, V.P. Naumov, A.F. Noskova und Aleksandr Vatlin), mit ihren Kollegen im Westen über den rundum verbrecherischen Charakter seiner Herrschaft einig. In den Werken sowohl über die Persönlichkeit Stalins (etwa in der Biografie von Robert Service oder in Richard Overys Vergleich mit Hitler) als auch über die Entwicklung der Sowjetunion (etwa von Manfred Hildermeier oder Jörg Baberowski) hat demgegenüber das außenpolitische Handeln nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. Diese Einseitigkeit vermeidet Stefan Creuzberger in seiner zusammenfassenden Darstellung: Nach einem einleitenden Kapitel über das Lebensende und die Anfänge des Diktators werden in zwei weiteren Hauptteilen die Innen- und die Außenpolitik gleichgewichtig abgehandelt. Daher wird nicht nur Stalins Terrorregime in der UdSSR beleuchtet, sondern auch das Vorgehen gegenüber der Außenwelt bis in die ersten, noch vor der Sowjetzeit liegenden Anfänge zurückverfolgt.
Der Leser erfährt zunächst in knapper, zuweilen nur exemplarisch darstellender Form, was Stalin in der Zeit bis zum frühen Mannesalter, also vor dem Aufstieg zur Macht, prägte. Er schien als gehätschelter Sohn seiner Mutter und geförderter Musterschüler zunächst im Rahmen des bestehenden Systems sozial aufzusteigen. Die Grundlagen seiner Bildung wurden auf einem orthodoxen Priesterseminar gelegt. Dort geriet er unter den Einfluss von Gegnern des Zarenregimes, verließ dann die Anstalt und verschaffte sich im Untergrund durch Organisationstalent, Beliebtheit bei den Genossen und erfolgreiche kriminelle Aktionen eine führende Stellung. Lenin wurde auf ihn aufmerksam und begann sich auf seine organisatorischen Fähigkeiten zu stützen. Von da nahm sein Aufstieg in der Partei seinen Ausgang. Creuzberger wendet sich gegen psychologische Deutungen, denen zufolge in der Kindheit erworbene Traumata spätere Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster - etwa Paranoia und Grausamkeit - nach sich zogen. Nach seiner Ansicht waren es wesentlich die von zahlreichen scharfen Konflikten bestimmten Erfahrungen in der transkaukasischen Region des Russischen Reiches, die für Stalins Vorstellungen nicht nur vom innenpolitischen, sondern auch vom internationalen Machtkampf maßgebende Bedeutung erlangten. Diese blieben vor wie nach der kommunistischen Machtergreifung nicht ohne Einfluss auf Lenin, selbst wenn dieser verschiedentlich anders entschied.
Als Generalsekretär der kommunistischen Partei konnte Stalin seine Talente zum Aufbau seiner persönlichen Macht nutzen. Während seine Konkurrenten ihn ständig unterschätzten, machte er von seinen Möglichkeiten rücksichtslosen Gebrauch. Er spielte sie gegeneinander aus, schaltete sie nacheinander aus und vernichtete sie dann. Zur dauernden Sicherung seiner Herrschaft hielt er die Partei- und Staatsapparate im Zustand permanenter Rivalität, sodass alle stets auf sein Wohlwollen angewiesen waren, und er ließ seine Mitarbeiter durch plötzliche Akte der Willkür und Erniedrigung spüren, dass ihre physische Existenz von ihm abhing. Der Massenterror, der sich zunächst gegen beliebig zu "Klassenfeinden" erklärte Personen und Gruppen, dann aber auch gegen die eigene Partei und alte Mitstreiter richtete, hatte darin eine wesentliche Ursache. Wie er mit anderen Ländern und Völkern umzugehen gedachte, die unter seine Herrschaft gerieten, hatte bereits sein Vorgehen nach dem siegreichen Ende des Bürgerkriegs gezeigt, als er wesentlich an der Wiedereinverleibung der transkaukasischen Republiken in das wiedererstehende Imperium beteiligt war. Im Umgang mit anderen Staaten, die seiner Macht entzogen waren, neigte Stalin dagegen zu pragmatischer Vorsicht, an deren Stelle aber "revolutionäre" Unbedachtheit treten konnte, wenn sich Expansionschancen zu eröffnen schienen. Das führte bei der Komintern-Politik mehrfach zu Inkonsistenz und Widersprüchlichkeit: Hier Zurückhaltung und dort offensiver Zugriff. Wenn das Wagnis scheiterte, wusste Stalin die Schuld stets anderen zuzuschieben. Seinem überwiegenden Hang zur Vorsicht entsprach der Grundsatz, man müsse sich vorerst auf den "Sozialismus in einem Lande" beschränken. Die Frage, wie sich die UdSSR gegenüber einer weit stärkeren systemfremden Außenwelt behaupten könne, die, der Ideologie zufolge, nichts anderes beabsichtigte, als sie zu vernichten, beantwortete er mit der These von den "zwischenimperialistischen Widersprüchen". Demnach gab es zwischen den kapitalistischen Staaten grundlegende Konflikte, die sie am Zusammenschluss gegen die Sowjetunion hinderten. Diese Konflikte müsse man weiter verstärken. Damit verband sich ein offensives Motiv: Die gegnerische Außenwelt sollte ihre internen Konflikte bis zum Ausbruch eines neuen Weltkriegs vorantreiben, der sie so weit schwäche, dass die "Arbeiterklasse" dieser Länder den Aufstand beginnen und mit Unterstützung der UdSSR den Kapitalismus niederringen könne.
Auch zu dem Zweck, Hitler zum Krieg gegen die Westmächte zu ermutigen, schloss Stalin mit dem NS-Regime 1939 den Nichtangriffspakt. Zwar kam es nicht zu der erwarteten wechselseitigen Vernichtung der kapitalistischen Staaten mit folgender sowjetischer Weltherrschaft, doch sorgte der Sieg über Deutschland im Bündnis mit den Westmächten für einen enormen Machtzuwachs Moskaus. Die gewaltige Zerstörung im Innern sollte mit amerikanischer wirtschaftlicher Hilfe behoben werden, doch das rücksichtslose Vorgehen, das sich Stalin in Erwartung eines raschen Rückzugs der USA aus Europa dort leisten zu können glaubte, machte nicht nur die Hoffnung auf materielle Unterstützung illusorisch, sondern bewog die Amerikaner auch zum ökonomischen, danach auch politischen und schließlich militärischen Engagement auf dem Kontinent. Als sich der 'Kalte Krieg' mit dem Westen abzeichnete, hoffte Stalin erneut auf die Entwicklung "zwischenimperialistischer Widersprüche", ohne wahrhaben zu wollen, dass er die westlichen Länder zur Bildung einer gemeinsamen Abwehrfront gegen die von ihm ausgehende Herausforderung veranlasste. Bei seinem Tod hinterließ er ein Imperium, das zwar nach außen hin über beeindruckende Macht verfügte, aber sich international isoliert und militärisch eingekreist sah und im Innern an einem schweren Erbe zu tragen hatte.
Creuzberger stellt Stalins Leben und Wirken für einen breiten Leserkreis eingängig dar. Da er neueste Forschungsergebnisse auswertet und den Erkenntnisstand zwar knapp, aber zuverlässig zusammenfasst, ist das Werk auch als Überblicksstudie für den Fachmann geeignet. Das Buch ist daher sowohl Forschern, Universitätslehrern und Studenten als auch politisch und historisch interessierten Laien zu empfehlen.
Gerhard Wettig