Corina Heß: Danziger Wohnkultur in der Frühen Neuzeit. Untersuchungen zu Nachlassinventaren des 17. und 18. Jahrhunderts (= Geschichte; Bd. 64), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2007, 338 S., ISBN 978-3-8258-8711-7, EUR 29,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Nachlassinventare stellen, obgleich sie schon vor Jahrzehnten die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden haben [1], noch immer eine zentrale Quelle konsumgeschichtlicher Untersuchungen dar.[2] Die zumeist im Rahmen von Erbschafts- und Vormundschaftsangelegenheiten entstandenen Auflistungen ermöglichen im Idealfall einen detaillierten Einblick in Hab und Gut des Verstorbenen und erlauben es bei serieller Auswertung, die Wandlungen materieller Kultur nachzuvollziehen. Leider sind Nachlassverzeichnisse aber gerade in größeren deutschen Handelsstädten wie Hamburg oder Frankfurt am Main nur lückenhaft erhalten. Gut gewählt ist daher der Untersuchungsgegenstand der hier zu besprechenden Dissertation, die bei Michael North in Greifswald entstanden ist: Corina Heß konnte im Danziger Staatsarchiv 351 Nachlassinventare aufspüren, die im 17. und 18. Jahrhundert von der städtischen Verwaltung angelegt wurden. Angesichts dieses hervorragenden Quellenmaterials hofft Heß zu Recht, eine Forschungslücke schließen zu können (20).
Aus der Fülle konsumgeschichtlicher Themen greift Heß allerdings nur einen Teilaspekt heraus: jenen der "Wohnkultur". Deren Wandel soll mittels einer quantitativen und qualitativen Analyse nachvollzogen werden, um Rückschlüsse auf die sich verändernden "Lebensgewohnheiten" (11) zu ziehen. Welchem übergeordneten Erkenntnisinteresse Heß dabei folgt und an welche Forschungsdebatten sie anschließt, wird aus der knappen Erörterung der Fragestellung jedoch kaum ersichtlich. Nur wenig hilft es da weiter, dass Heß in Anlehnung an Ruth-E. Mohrmann ihre Studie als "Untersuchung der historischen Alltagswelt" (10) verstanden wissen will. Am deutlichsten tritt noch das Interesse am kulturellen Transfer hervor, der sich - wie Heß richtig annimmt - auch über den Austausch materieller Güter fassen lässt (11).
Mit dem Forschungsstand und insbesondere mit Entstehungskontext und Problemen des Quellenmaterials setzt sich Heß dagegen intensiver auseinander. Dennoch bleiben auch hier Fragen offen, so etwa zur Zusammenstellung des Quellenkorpus. Zwar ist es eine nachvollziehbare pragmatische Entscheidung, sich bei der Auswahl der Nachlassinventare auf Haushalte zu beschränken, die der "Unter- bzw. Mittelschicht" (13) zuzurechnen sind, wenn zeitgleich eine polnische Kollegin mit einer ähnlichen Untersuchung des Danziger Patriziats befasst ist.[3] Auch ist es legitim, sich bei entsprechender Quellenfülle einen begrenzten zeitlichen Rahmen zu setzen. Doch wäre dann zumindest eine Erklärung zu erwarten, warum der Untersuchungszeitraum gerade auf das 17. und 18. Jahrhundert bzw. exakt auf die Jahre zwischen 1621 und 1800 eingegrenzt wird.
Aus den darauffolgenden kurzen Ausführungen zur politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Danzigs ist jedenfalls kein kulturelles, wirtschaftliches oder politisches Ereignis zu entnehmen, das diese Zäsuren rechtfertigen würde. Vielmehr drängt sich angesichts der Schilderungen, wie Danzig seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert zum "Venedig des Nordens" (50) aufstieg, die Frage auf, warum nicht auch die vom 16. bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts andauernde "intensive ökonomische und kulturelle Blütezeit" (46) in die Untersuchung einbezogen wurde, wenn doch die Überlieferung der Nachlassinventare bereits im 16. Jahrhundert einsetzt (11).
Nach diesen hinführenden Kapiteln wendet sich Heß der eigentlichen Quellenanalyse zu, die im Wesentlichen in der statistischen Erfassung und alltagsgeschichtlichen Einordnung der in den Inventaren erfassten Gegenstände beruht. Dabei mag es auf den ersten Blick durchaus einleuchten, dass Heß nicht alle Bestandteile der Nachlassinventare berücksichtigt, sondern sich auf jene Angaben konzentriert, die Rückschlüsse auf die "Wohnkultur" erlauben. Dazu befasst sie sich zunächst mit verschiedenen Möbeln, um sich dann der "Wohnungsauskleidung" (163) - Spiegeln, Bildern, Uhren, Beleuchtung, Geschirr und Wäsche - zuzuwenden. Abschließend wird die Beschränkung auf die "Wohnkultur" aber doch durchbrochen, indem Heß auch den verzeichneten Schmuck für ihre Untersuchung heranzieht, da er "den Wert bzw. den Reichtum eines Inventars zu veranschaulichen" (258) helfe. Mit dem gleichen Argument hätte auch der Kleiderbesitz einbezogen werden können, der nicht zuletzt wegen seiner obrigkeitlichen Normierung Beachtung verdient hätte, doch bleibt dieser bedauerlicherweise ausgespart. Verzichtet hat Heß zudem auf eine systematische Erfassung der verzeichneten Passiv- und Aktivschulden; unerwähnt bleiben überdies Angaben zu Immobilienbesitz und Wohnort der Verstorbenen. Beides hätte dazu beitragen können, ökonomische Lage und soziale Position des jeweiligen Erblassers genauer zu beschreiben. So bleiben als Anhaltspunkt neben dem Geschlecht nur die Berufe der Verstorbenen, die Heß zwar in einer Liste im Anhang aufführt, aber keineswegs immer mit den Angaben aus den Inventaren verknüpft. Somit wird die Aussagekraft der Quellen dann doch nicht ausgeschöpft.
Die quantitative Auswertung der Quellen erfolgt in Unterkapiteln, die sich jeweils mit einem Gegenstand oder einer Gegenstandsgruppe befassen. Deren Nennung in den Nachlassverzeichnissen wird in Diagrammen teils prozentual, teils in absoluten Zahlen erfasst. Heß hat dazu die 180 Jahre ihres Untersuchungszeitraums in Abschnitte von 30 Jahren unterteilt, für die sie das Vorkommen der jeweiligen Gegenstände angibt. Mitgeteilt wird stets auch das Jahr der Erstnennung im zugrundeliegenden Quellenkorpus, obgleich diese Angabe nur bei solchen Besitztümern von Wert sein kann, die erst im Verlauf des Untersuchungszeitraums in die berücksichtigten Danziger Haushalte aufgenommen wurden. Wenn beispielsweise erstmals im Jahr 1626 ein Bett in den untersuchten Inventaren aufgeführt wird (112), lässt das mit Sicherheit nicht darauf schließen, dass zuvor keine Betten vererbt oder gar besessen wurden. Aufschlussreicher ist es dagegen, dass die Erstnennung einer Taschenuhr in den Zeitraum zwischen 1681 und 1710 fällt, während im letzten Untersuchungsabschnitt (1771-1800) bereits 16 Uhren dieser Art genannt werden (189).
Ergänzt werden die Zahlen durch Zitate aus den Inventaren, die einen Einblick in die zeitgenössische Begrifflichkeit erlauben, aber vereinzelt unkommentiert bleiben. Das ist bedauerlich, denn aufgrund dialektaler oder orthographischer Verballhornungen erschließt sich keinesfalls immer, welches Material oder welcher Verwendungszweck in den Quellen beschrieben ist. Versteht tatsächlich jeder Leser, was mit "Kamsohl-Knöpfen" (271) oder "Bencklacken von tepetzereyen" (248) gemeint ist? Der gleichförmige Aufbau der Unterkapitel, der Wechsel aus Einordnung, Diagrammen, Zitaten und Zusammenfassungen, macht die Lektüre zudem mitunter ermüdend. Dazu tragen auch einige Redundanzen bei, etwa wenn wiederholt auf den Kulturtransfer oder quellenkritische Unwägbarkeiten verwiesen wird.
Bei der Interpretation ihrer Ergebnisse bleibt Heß leider allzu oft an der Oberfläche. Zwar benennt sie Novationsphasen der Danziger "Wohnkultur" und vergleicht diese mit denen anderer Städte, weist das stetige Anwachsen und die zunehmende Differenzierung des Hausrats nach, ordnet Möbel und Gerätschaften verschiedenen sozialen Gruppen zu. Doch was sagt es letztlich aus, wenn sich beispielsweise das Kanapee "als das Möbel par excellence der oberen Mittelschicht [erweist], das gleichzeitig Eleganz und Geschmack verkörperte und Ausdruck einer neuen repräsentativen Wohnkultur war" (110-111)? Wodurch war diese "obere Mittelschicht" außer durch ihren Güterbesitz charakterisiert? Warum musste Geschmack zum Ausdruck gebracht werden? Und was eigentlich sollte durch eine elegante Ausstattung 'repräsentiert' werden?
Die Zusammenführung der Einzelergebnisse in einer knappen Schlussbetrachtung birgt dann noch ein paar interessante Einsichten, deren tiefergehende Interpretation allerdings wünschenswert gewesen wäre - jene etwa, dass sich der wirtschaftliche Niedergang Danzigs seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht in den Nachlassinventaren widerspiegelt, oder jene, dass Nachlässe männlicher Erblasser mehr und hochwertigere Gegenstände enthielten als die Hinterlassenschaften verstorbener Frauen. Nicht überraschend, aber nun auf breiter Quellengrundlage bestätigt, ist Heß' Ergebnis, dass "Möbel-, Geschirr- und Schmuckbesitz von einander [sic] abhängende Größen darstellen" (283). Einer exquisiten Ausstattung an Möbeln entsprach also stets ein reicher Besitz an Geschirr und Schmuck, und es waren diese wohlhabenden Haushalte, die zuerst neue - und das hieß zumeist westeuropäische - Wohnstile aufgriffen (286).
Heß' Studie kommt zweifellos das Verdienst zu, das umfangreiche Danziger Quellenmaterial erschlossen und vorgestellt zu haben. Schon damit hat sie tatsächlich eine Forschungslücke geschlossen. Doch leider hat Heß die Chance vertan, ihre Ergebnisse in die aktuelle konsumgeschichtliche Diskussion einzuordnen und damit der Forschung neue Impulse zu verleihen. So erweckt das Buch manches Mal den Eindruck einer Materialsammlung - und fordert gerade deshalb zu weitergehenden und vergleichenden Untersuchungen auf.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Ad van der Woude / Anton Schuurman (eds.): Probate inventories. A new source for the historical study of wealth, material culture and agricultural development. Papers presented at the Leeuwenborch conference (Wageningen, 5-7 May 1980), Wageningen 1980; Hildegard Mannheims / Klaus Roth: Nachlaßverzeichnisse. Internationale Bibliographie (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland; 39), Münster 1984.
[2] Vgl. beispielsweise Bruno Blondé: Cities in decline and the dawn of a consumer society. Antwerp in the 17th-18th centuries, in: Bruno Blondé [et al.] (eds.): Retailers and consumer changes in early modern Europe. England, France, Italy and the Low Countries, Tours 2005, 37-52.
[3] Es handelt sich um die 2006 von Ewa Barylewska-Szymańska an der Universität Danzig abgeschlossene Dissertation zur Ausstattung Danziger Häuser in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Julia A. Schmidt-Funke