BA-CA Kunstforum (Hg.): Der Kuss der Sphinx. Symbolismus in Belgien. Mit Texten von Michel Draguet, Dominique Maréchal, Sabine Plakolm-Forsthuber, Ostfildern: Hatje Cantz 2007, 280 S., 194 Abb., ISBN 978-3-7757-2067-0, EUR 39,80
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In modernistischer, auf Abstraktion ausgerichteter Perspektive, hatten die vielfältigen symbolistischen Strömungen der vorletzten Jahrhundertwende keinen Beitrag zur Entwicklung der Kunst geleistet, spielten in den Genealogien der modernen Kunst nur eine marginale Rolle. Zuletzt nahm die Aufmerksamkeit jedoch wieder zu: Monografische Ausstellungen zu Fernand Khnopff, James Ensor und Odilon Redon haben neben der weniger Geschmacksveränderungen unterworfenen Vorliebe für den Wiener Sezessionsstil um Gustav Klimt zentrale Künstlerfiguren des westeuropäischen Symbolismus bekannter gemacht. [1] Der Ahnherr der meisten frankophonen Symbolisten, Gustave Moreau, wurde von Raphael Rosenberg im letzten Jahr sogar gemeinsam mit Victor Hugo und Joseph Mallord William Turner als Vorläufer der Abstraktion wieder eingesetzt. [2] Es fehlt nun noch eine umfassendere Würdigung der Werke von Félicien Rops.
Anlass der hier angezeigten Publikation war eine Ausstellung im Wiener BA-CA Kunstforum, welche die bisher wenig beachtete Verbindung zwischen der Hauptstadt des jungen Belgien und der österreichischen Metropole dokumentieren sollte. Es handelt sich nicht um einen Ausstellungskatalog im klassischen Sinn, da die einzelnen Objekte nicht mit eigenen Texten vorgestellt, sondern nur in einem Anhang mit ihren technischen Angaben katalogisiert werden. Drei Überblicksaufsätze und 15 kurze Einleitungen zu den Kapiteln, in welche die Ausstellung gegliedert war, bilden den Textbestand: Brüssel (Michel Draguet), Brügge (Dominique Marechal) und Wien (Sabine Plakolm-Forsthuber) bilden in den Aufsätzen die lokalen Kristallisationspunkte, die Perspektiven auf den belgischen Symbolismus erlauben sollen.
Draguets einleitender Essay fasst die wesentlichen Argumentationslinien seiner Monografie zum belgischen Symbolismus zusammen, die als die maßgebliche Publikation zum Thema gelten kann. Er bestimmt den Symbolismus als eine Geisteshaltung, die nicht die Kriterien eines Stils erfüllt, und impliziert damit das Problem der Heterogenität, das Definitionen dieser europäischen Avantgardebewegung traditionell so schwierig macht. Zwar bietet Draguet an, das Phänomen nach den Graden und Formen der Institutionalisierung, nach Motiven und Rezeptionsstrukturen zu untersuchen, führt diese sinnvolle Vorgehensweise dann aber nicht konsequent durch.
Marechal unterstreicht die Bedeutung der Stadt Brügge für den motivischen Fundus (nicht nur) des belgischen Symbolismus. Die "Entdeckung" der im spätmittelalterlichen Zustand konservierten Stadt und ihre geradezu mystische Überhöhung erfolgte durch Künstler und Literaten. Während Brüssel als Haupt- und Residenzstadt des jungen belgischen Staates zu einer Metropole des Industriezeitalters ausgebaut wurde, erwarb Brügge den Status einer Reliquie der nationalen Geschichte. Georges Rodenbachs "Das tote Brügge", welches 1892 mit einem Frontispiz nach Entwurf von Fernand Khnopff und mit Fotografien der mittelalterlichen Denkmäler der Stadt erschien, bildete einen ersten Höhepunkt einer künstlerischen nostalgischen Beziehung zur ehemaligen flämischen Metropole.
Dass - obschon ursprünglich für Wien konzipiert - mit Josef Hoffmanns Palais Stoclet 1902 ein Hauptwerk des Wiener architektonischen Sezessionsstils in Brüssel errichtet wurde, scheint Begründung genug zu sein, die Rezeption des belgischen Symbolismus in Wien zu untersuchen. Neben einer erneuten Dokumentation der Aufnahme Khnopffs in den Ausstellungen der Sezession ist Plakolm-Forsthubers Rekonstruktion der Präsenz auch weniger bekannter Künstler im Kunsthandel und in Privatsammlungen verdienstvoll. Die Zahl der Werke in der Ausstellung, die das Wiener Publikum tatsächlich um die vorletzte Jahrhundertwende sehen konnte, war jedoch gering.
Die Ausstellungskapitel widmen sich einzelnen Künstlern und Literaten (Rops, Minne, Delville, Péladan) und berücksichtigen dabei erfreulicherweise Personen, die zwar weniger prominent als bspw. Khnopff waren, deren Bedeutung innerhalb der Bewegung selber aber kaum überschätzt werden kann, so der Neubegründer des Rosenkreuzerordens Joséphin Péladan. In seiner Person und seinen Aktivitäten bündelt sich eine Begeisterung für das Übersinnliche, die ins Esoterische und Okkulte zielt und vielfältige Inspirationen für Künstler lieferte. Auch Khnopff hat sich in einer rätselhaften Pastellzeichnung mit Péladans Roman "Le vice suprême" (1884) auseinandergesetzt; ein "Titelblatt" (51) kann man diese aber nicht nennen. Plakolm-Forsthubers diesbezüglicher Verweis führt auch nicht zu einer Arbeit Khnopffs, sondern zu Félicien Rops' Radierung gleichen Titels, die sehr wohl als Frontispiz zum Text des Erneuerers der Rosenkreuzer bestimmt war.
Die Einleitungen der einzelnen Kapitel entsprechen überwiegend wörtlich übersetzten Textbausteinen aus Draguets "Le symbolisme en belgique", worauf nur ein Verweis in einer Fußnote seines eigenen Aufsatzes deutet. [3] Das erschwert die Lektüre und das Verständnis, da in der Zusammenstellung Kontexte verloren gingen und auf die originalen Quellenangaben wie Fußnoten verzichtet wurde. Darüber hinaus schleichen sich verschiedentlich sachliche Fehler ein: So ertrinkt Narziss in den maßgeblichen Versionen der klassischen Mythologie selbstverständlich nicht (31); auch stellt Arthur Craco in Kat. 70 die Medusa natürlich nicht schlafend dar (160) - und nimmt ihr so eben nicht "einen Teil ihres Schreckens" -, sondern präsentiert in einer für die Skulptur des Fin de Siècle typischen Materialcollage aus Elfenbein und Bronze ihr abgeschlagenes Haupt. In der Tat ist auch die Beeinflussung durch die Prä-Raffaeliten für das Verständnis der Arbeiten Khnopffs außerordentlich wichtig. Deren "ample mouvement de retour aux Primitifs" (Draguet, 160) zu übersetzen mit "Bewegung, die eine Rückkehr zu den alten Niederländern propagiert" (186), setzt aber einen falschen Akzent. Die Beziehung der belgischen Künstler zur Malerei um Van der Weyden und Memling hat einen nationalen kulturpolitischen Bezug, wie überhaupt die Funktion des Symbolismus (und im Übrigen auch des Art Nouveau) für die Ausbildung eines nationalen kulturellen Selbstverständnisses im jungen belgischen Staat eine mögliche Erklärung für deren Lebendigkeit und Erfolg in Brüssel und Umgebung in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sein dürfte.
Andere Kapitel haben historische Bezüge ("Brügge 1902" über den Einfluss der epochalen Altniederländer-Ausstellung, unsinnig getrennt vom Kapitel über die Beziehungen der Symbolisten zur altniederländischen Malerei im Allgemeinen) oder widmen sich im weitesten Sinne Motivkreisen ("Die Versuchung", "Fern der Städte"). Positiv formuliert, stellt sich derart das Konzept der Publikation ebenso heterogen dar, wie es der Symbolismus in Belgien gewesen ist. Am Ende stellt sich in der Gliederung Beliebigkeit ein. Es wird z.B. der ästhetische Reiz der kunstgewerblichen Objekte Philipp Wolfers' gefeiert, deren Ausgangsmaterial Elfenbein der belgische König Leopold II. den Künstlern persönlich zur Verfügung stellte. Dass er sie damit für die beispiellos brutale Ausbeutung der Ressourcen des Kongo instrumentalisierte, tritt in den Texten hinter den Schmuckwert zurück. Immerhin werden durch die Gliederung weniger bekannte Künstler wie Jean Delville und Léon Spilliaert vorgestellt, von denen man den einen (Delville) als zeitgebundenes esoterisches Kuriosum wird einordnen müssen, auch wenn seine malerisch-technisch raffinierten Schöpfungen in Richtung New Age weisen. Spilliaert dagegen gilt es noch zu entdecken. In seinen eigenartigen Kompositionen verbindet er nuancierte gedämpfte Farbstimmungen mit irritierenden Perspektivkonstruktionen. Seine Einordnung zwischen Symbolismus, Expressionismus und Konstruktivismus belegt nur ein weiteres Mal die Untauglichkeit der Ismus-Etiketten im Rückblick auf die Avantgarde. Der Rezensent vermisst eine ausführlichere Berücksichtigung der zahlreichen miteinander verwobenen und auseinander hervorgehenden Gruppen und Künstlervereinigungen, die in Brüssel ein Organisationsprinzip der Avantgarde vielfältig vorweggenommen haben und die Netzwerke des Symbolismus vorantrieben. Immerhin entspricht es der zeitgenössischen Programmatik, die Bewegung entlang der Leitdifferenz von Empfindung und Verstand zu thematisieren und als deren Ziel die Suche nach der Form des Gedankens auszumachen.
Bleibt die Frage, warum die Ausstellung den Titel "Der Kuss der Sphinx" trug. Man mag Khnopffs ikonisches Gemälde "Liebkosungen" in Brüssel (1896, MRBA) assoziieren. Aber abgesehen davon, dass es nicht in der Ausstellung vertreten war, schmiegen dort ein feminines Mischwesen und ein androgyner Jüngling ihre Köpfe aneinander - von einem Kuss kann nicht die Rede sein. Nur der Münchner Franz von Stuck hat es gewagt, den Kuss einer Sphinx darzustellen (1895, Budapest, Szépmüveszeti Museum) - aber er war ebenso wenig Bestandteil der Präsentation. Wenn es darum ging, zwischen Realität und Assoziation eine emblematisch rätselhafte Beziehung herzustellen, ist es den Kuratoren mit dieser Titelwahl gelungen.
Anmerkungen:
[1] Fernand Khnopff (1858-1921). Ausst.-Kat. Brüssel, Stuttgart 2004; James Ensor. Ausst.-Kat., hgg. von Ingrid Pfeiffer / Max Hollein / Sabine Bown-Taevernier, Frankfurt am Main / Ostfildern-Ruit 2005; James Ensor. Schrecken ohne Ende, hg. von Gerhard Finck, Wuppertal 2008; Odilon Redon. Wie im Traum, hgg. von Margret Stuffmann / Max Hollein, Ostfildern-Ruit 2007.
[2] Turner - Hugo - Moreau. Entdeckung der Abstraktion, hg. von Raphael Rosenberg, München 2007.
[3] Michel Draguet: Le Symbolisme en Belgique, Antwerpen 2004.
Stefan Grohé