Rezension über:

Rhiannon Evans: Utopia Antiqua. Readings of the Golden Age and Decline at Rome, London / New York: Routledge 2008, vi + 234 S., ISBN 978-0-415-27127-1, GBP 60,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Astrid Habenstein
Abteilung für Alte Geschichte & Rezeptionsgeschichte der Antike, Universität Bern
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Astrid Habenstein: Rezension von: Rhiannon Evans: Utopia Antiqua. Readings of the Golden Age and Decline at Rome, London / New York: Routledge 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 [15.10.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/10/14821.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Rhiannon Evans: Utopia Antiqua

Textgröße: A A A

Der Begriff 'Utopie' hat eine lange und schillernde Tradition. Im 21. Jahrhundert, mit dem Untergang fast aller Bastionen einer - vorgeblich 'real existierenden' - sozialistisch-kommunistischen Utopie, ist er zwar in Verruf geraten. Als Forschungsgegenstand erfreuen sich Utopien jedoch weiterhin einiger Aufmerksamkeit. Denn insofern mittels einer Utopie ein ideales Gesellschaftsbild gezeichnet sowie der Wunsch nach einem besseren Leben und damit Kritik an bestehenden Verhältnissen zum Ausdruck gebracht wird, bietet sie auch Aufschlüsse über den gesellschaftlichen Kontext, in dem sie formuliert wurde.

Vor diesem Hintergrund betrachtet Rhiannon Evans Vorstellungen vom Goldenen Zeitalter in der römischen Literatur der späten Republik und des Prinzipats. Dabei grenzt sich die Autorin vom Konsens der Utopie-Forschung ab, wonach diese Erzählformen nicht unter 'Utopie' zu fassen sind, da keine alternativen Gesellschaftsmodelle entwickelt werden. Zwar ist auch Evans der Ansicht, dass es sich nicht um Utopien im engsten Wortsinn handelt; doch erscheint es ihr gleichermaßen problematisch, "to see them merely as cross cultural remnants of primitive yearning, near-identical to all other Golden Age/Garden of Eden tales" (2). Die Autorin verwendet die Begriffe "utopia" und "dystopia" daher "in the broader sense of the ideal, liveable community, and its hellish opposite" (3). So verstanden, beinhalteten auch römische Erzählungen vom Goldenen Zeitalter oder dessen Gegenteil utopische beziehungsweise dystopische Elemente.

Im ersten Kapitel "Utopia: Landscape and Symbol" (8-30) geht Evans der Frage nach der geographischen und zeitlichen Verortung des Utopischen nach. Insgesamt gelangt sie hierbei zu dem Fazit, dass "[t]he search of paradise might involve escape to the periphery [...] or, in a rare bust of optimism, it might even exist at home" (30). Zudem seien utopische Erzählelemente oft auf eine nicht näher spezifizierte Zukunft projiziert worden; mit Augustus, der sich als Initiator des neuen, Goldenen Zeitalters darstellen ließ, habe man allerdings auch den Gegenwartsbezug gesucht, wenn auch nicht frei von Widersprüchen (18-24). Die für utopische Landschaften ferner kennzeichnende Fruchtbarkeit einer paradiesischen Flora und Fauna habe man ambivalent und mit der Sorge betrachtet, "that one might luxuriate oneself to destruction, albeit in a deeply pleasurable way." (17)

Thema des zweiten Abschnitts, "Myths of the Ages and Decline" (31-92), sind römische Interpretationen des Mythos' von den Weltzeitaltern, der die Menschheitsgeschichte als sukzessiven Niedergang vom Goldenen Zeitalter hin zum Menschen aus Erz beschreibt. Der Verfallsgedanke, eine in der römischen Literatur weitverbreitete Thematik, erscheint Evans für ihre Studie zentral. Denn "degeneration can only exist if seen in association with the utopian". (32)

Besonders ausführlich widmet sich die Autorin hierzu Ovids Übernahme des Mythos' in den Metamorphosen (36-71). Sie betont, dass Ovid zwar Elemente des Goldenen Zeitalters auf seine Gegenwart übertrage; eine Deutung, die vor allem ein Lobpreis der Augusteischen Zeit als Intention voraussetzt, werde jedoch der literarischen Komplexität des Werkes nicht gerecht. Ferner wird das Spannungsverhältnis zwischen dem Niedergangsszenario des Zeitalter-Mythos' und der römischen Tradition erörtert, das einfache Landleben der maiores gegenüber einer dekadenten städtischen Lebensweise in der Gegenwart zu preisen. (83-92) Die Metapher vom Goldenen Zeitalter sei auch dazu verwendet worden, um dieses Motiv in Frage zu stellen. (87)

Das dritte Kapitel, "Lucullan Marble and the Morality of Building" (93-129), nimmt seinen Ausgangspunkt bei einer in Plinius' Naturgeschichte überlieferten Episode, wonach Lucullus namengebend für einen Marmor gewesen sei, den der Feldherr in Rom eingeführt und besonders geschätzt haben soll. In der kaiserzeitlichen Überlieferung wurde der militärisch erfolgreiche und einflussreiche Politiker vor allem zum Symbol für die 'dekadente' hellenistische luxuria aus dem Osten; Plinius' Bericht vom marmor Luculleum sei hierfür lediglich ein Beispiel.

Evans sucht hier zunächst Parallelen zu römischen Benennungspraktiken, die nachhaltig die militärisch-politischen Verdienste eines römischen Aristokraten symbolisieren sollten (93-96). Plinius habe demgegenüber die Benennung eines Luxusmaterials nach Lucullus dazu gedient, dessen Rolle bei der Einführung einer aufwändigen, fremden Lebensführung und Kultur besonders negativ herauszustellen. Hinsichtlich der Frage nach dem "man behind the marble" (96-103) kommt Evans zu dem Schluss, dass Lucullus' extravaganter Lebensstil leicht als "a display of his economic power" interpretiert werden könne; er habe einen Teil der "traditional arena" gebildet, "in which the republican elite battled for status". (104) Plinius habe Lucullus jedoch zu einem der Begründer jenes Lebenswandels stilisiert, den er für den Verlust des (kulturellen) Zusammenhalts dieser Elite und damit für die Krise der Republik verantwortlich machte und den er auch 'schlechten' Kaisern wie Caligula und Nero zuschrieb.

Kapitel 4, "Rust: Enemy of the State" (130-188), analysiert abschließend Niedergangsmetaphern in der römischen Literatur. Namentlich geht es um den Ausdruck robigo, der weitreichend Verfall versinnbildlichen konnte: "robigo overwhelmes whatever it attacks - wheat, weapons, the body - and takes away its vitality and functionality". (131) In den Mittelpunkt stellt Evans hierbei zwei zentrale Aspekte römischer Selbstdarstellung, die immer wieder in Verbindung mit dem Niedergangsparadigma und robigo thematisiert worden seien: Krieg und Landwirtschaft, jene Tätigkeitsfelder, "which define the proper spheres for a freeborn Roman male"; diese seien traditionell als "complementary activities" (171) beschrieben worden, und ihre zunehmende Differenzierung sei ein ständiges Thema in den Niedergangsszenarien Augusteischer Zeit.

Es fällt nicht ganz leicht, die Untersuchung insgesamt zu beurteilen. Positiv fallen zunächst viele anregende Einzelbeobachtungen auf, die Evans aus dem Blickwinkel des Utopischen aufzudecken vermag. Das gilt insbesondere für das dritte Kapitel, in dem die Autorin sehr schön die Komplexität und Funktionsweisen römischer Dekadenzdiskurse nachzeichnet. Den in der Regel negativ gezeichneten Lucullus mit einer in der Überlieferung vielschichtigeren Persönlichkeit, wie etwa dem nur am Rande thematisierten Pompeius Magnus, zu kontrastieren, wäre in diesem Zusammenhang vielleicht wünschenswert gewesen.

Leider neigt die Autorin dazu, sich in Detaildiskussionen zu verlieren. Vor allem in den Kapiteln zwei und vier geht die Darstellung zum Teil sehr verschlungene (Seiten-)Wege, die sich manchmal nur schwer in einen übergeordneten Zusammenhang einordnen lassen. Folglich ist es letztlich auch schwierig, ein Gesamtbild herauszuschälen. Zwar war es wohl auch nicht Evans' Anliegen, eine umfassende Geschichte des Utopischen in der römischen Literatur zu schreiben; vielmehr scheint es ihr um Denkanstösse zu gehen, und das ist ihr auch gelungen. Eine etwas ausführlichere und systematischere Einleitung, verbunden mit einem - leider gänzlich fehlenden - Fazit, um die zahlreichen Teilergebnisse in einer Gesamtschau zusammenzuführen, wären der Untersuchung jedoch sehr zu Gute gekommen.

Abschließend zu kritisieren bleibt, dass Evans sich wenig mit der deutschen althistorischen Forschung auseinandersetzt. Lediglich ärgerlich ist dies, wenn etwa am Rande zum römischen Naturempfinden und Quellenwert von Wandmalereien die Studie Katja Schneiders oder zu Italien als Ort des Goldenen Zeitalters die Untersuchung von Ekkehard Stärk nicht berücksichtigt wird (18-24). [1] Problematischer wird es, wenn es um einen Aspekt geht, der für die Studie eigentlich zentral sein sollte, nämlich das Verhältnis zwischen Vorstellungen vom Goldenen Zeitalter und Vergangenheitskonstruktion. Jenes prägt sich im römischen Kontext - wie Evans selbst betont, aber letztlich kaum einmal tiefer gehend ausführt - in spezifischer Weise aus, insofern das Goldene Zeitalter entweder in der Vergangenheit oder aber in einer Zukunft gesucht wurde, "which is usually cast as a return to the past" (7). Das berührt das Thema römische 'Geschichtskultur', welches in den letzten Jahren insbesondere von der deutschen Forschung diskutiert wurde [2], was Evans jedoch nicht zur Kenntnis nimmt.

Die bei aller Kritik insgesamt dennoch interessante Studie beinhaltet eine Bibliographie (213-230) und einen - sehr knappen! - Namens-, Sach- und Ortsindex (231-234), über den auch die Quellenstellen zu erschließen sind. Karten- oder Bildmaterial wurde nicht beigefügt, was manchmal bedauerlich ist, dem Verständnis aber nicht grundsätzlich schadet.


Anmerkungen:

[1] Katja Schneider: Villa und Natur. Eine Studie zur römischen Oberschichtkultur im letzten vor- und ersten nachchristlichen Jahrhundert, München 1995; Ekkehard Stärk: Kampanien als geistige Landschaft. Interpretationen zum antiken Bild des Golfs von Neapel, München 1995.

[2] Siehe etwa neben vielen anderen Uwe Walter: Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom, Frankfurt am Main 2004.

Astrid Habenstein