Rita Stöckli: Der Savoyerhandel 1860. Die mediale Konstruktion eines politischen Ereignisses, Zürich: Chronos Verlag 2008, 376 S., ISBN 978-3-0340-0934-8, EUR 42,00
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"Der Savoyerhandel" ist der zeitgenössische Begriff für die Vereinbarung zwischen dem französischen Kaiser Napoleon III. und dem piemontesischen Ministerpräsidenten Cavour über die Angliederung Nizzas und Savoyens von Sardinien-Piemont an Frankreich als Ausgleich für die französische Unterstützung der italienischen Einigungsbewegung zwischen 1858 und 1861. Doch löste dieser "Handel" nicht nur in Frankreich und Sardinien-Piemont Diskussionen aus, sondern auch in der Schweiz. Das lag zum einen an der in der Westschweiz, speziell in Genf, schon seit 1848 latent vorhandenen Angst vor französischen Annexionswünschen, die bei Grenzrevisionen immer wieder auftauchten. Zudem war Nordsavoyen durch die Verträge von Paris (1815) und Turin (1816) neutralisiert worden. Die Schweiz wurde in diesem Kontext als Hüterin der Neutralität eingesetzt mit dem Recht, das Gebiet im Kriegsfall zu besetzen. Weil zudem Genf in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht eine Metropolfunktion für diese Gebiete ausübte, wurde insbesondere in der Westschweiz 1858 auch die militärische Besetzung des Chablais und von Faucigny diskutiert. Doch nicht die politischen Ereignisse stehen im Mittelpunkt dieser Züricher Dissertation, sondern seine Rezeption und "Konstruktion" durch die europäische, insbesondere die schweizerische Presse.
Ziel der Arbeit ist es, eine "andere Geschichte" des "Savoyerhandels" zu schreiben. Gemeint ist damit, dass die "sprachlich-mediale Konstituierung des Savoyerhandels durch die Presse" (34) im Mittelpunkt stehen soll. Dazu greift die Autorin tief in die Methodik der Kommunikationswissenschaften, insbesondere zu den Theorien von Marshall McLuhan und Niklas Luhmann. Gerade letzterer hat in seiner Systemtheorie der medialen Kommunikation eine entscheidende, System konstituierende Funktion zugewiesen. Verbunden wird dies mit modernen kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die auf die mediale und kommunikative Konstruktion von Realität verweisen. Auf der Basis dieses theoretischen Gerüsts werden dann 16 so genannte "signifikante Vorfälle der Presseberichterstattung" geschildert. Gemeint sind damit Ereignisse, die im Kontext der politischen Diskussionen um Savoyen eine besondere Aufmerksamkeit in der Presse erfuhren. Die Quellenbasis bilden insgesamt 70, vor allem schweizerische und französische Zeitungen, die durch britische und deutsche Presseartikel ergänzt wurden. Insgesamt entsteht so eine zum Teil sehr tiefgehende Analyse des "Savoyerhandels" im Spiegel der Presse. Rita Stöckli kann zeigen, wie einzelne Ereignisse in einer Zeitung lanciert wurden, wie andere Medien darauf reagierten und wir hieraus eine zum Teil lange, bisweilen polemische Debatte entstand. Die Rekonstruktion dieser "signifikanten Vorfälle" basiert auf einer gründlichen und intensiven Studie der entsprechenden Zeitungen. Sie liefern in der Tat eine andere Geschichte des "Savoyerhandels", weil dieser in vielen der Debatten nur in der Initialphase eine Rolle spielte und dann zu Gunsten anderer Sujets an Bedeutung verlor. Leider geht die Autorin auf diese Sujets nur am Rande ein.
Hier können nur zwei dieser Fragen angerissen werden. Zum einen war die Pressedebatte um den "Savoyerhandel" - das macht die Arbeit implizit sehr deutlich - in starkem Maße eine Diskussion um die schweizerische Vorstellung von der Nation. Die Frage, ob die Schweiz militärisch in Savoyen intervenieren sollte oder nicht, ob sie gar das nördliche Savoyen annektieren könne, griff tief in das Selbstverständnis des eben entstandenen Bundesstaates und seiner Kantone ein. In der östlichen Schweiz, insbesondere in der Bündner Presse, wurde eine solche Intervention grundsätzlich abgelehnt, in der Westschweiz war das nicht so unbedingt der Fall. Auch die Aktivitäten der nationalistischen Studentenvereinigung "Helvetia" oder das Gerücht über die bewaffneten Einheiten, die angeblich von Genf aus nach Savoyen aufgebrochen waren, um das Land zu besetzen, gehören in diesen Kontext. Die schweizerische Debatte um den "Savoyerhandel" war zu einem großen Teil eine Debatte um die politischen und kulturellen Werte des Bundesstaates Schweiz.
Zum anderen macht die Arbeit von Rita Stöckli implizit deutlich, dass es in den Jahren zwischen 1858 und 1860 eine europäische Medien-Öffentlichkeit gab. Sie schildert, wie die Savoyer-Frage durch die französische Zeitung Patrie lanciert wurde und dann in die Schweiz gelangte. Wichtig waren auch die Artikel der Londoner Times, die immer wieder als Referenzrahmen für die französische und schweizerische Berichterstattung herangezogen wurden. Das zeigt, dass es in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine europäische Medienöffentlichkeit gab.
Die Analyse ist insgesamt schwach. Der Hinweis darauf, dass die Berichterstattung über den Savoyerhandel "kontingent" war, soll heißen, dass die Presseberichterstattung durch ihre "Unvorhersagbarkeit und ihre fehlende Notwendigkeit" (310f.) charakterisiert war. Auch die Erkenntnis, dass "Emotionalisierung die dominante journalistische Strategie" (312) war, liegt vor allem daran, dass es um grundsätzliches ging, nämlich die Frage um den Charakter der schweizerischen Nation.
So bleibt die Arbeit ambivalent. Sie beeindruckt durch die breite Quellenbasis, die tatsächlich Einblick gibt in eine "andere Geschichte des Savoyerhandels". Diese Schilderung liest man mit Gewinn. Leider bleibt die Analyse der Arbeit, auch im Sinne der in der Einleitung geschilderten Kommunikationstheorie Niklas Luhmanns, dünn.
Guido Thiemeyer