Sandra Carius: Projekt: Einheitssozialversicherung. Entstehung der einheitlichen Sozialversicherung in der SBZ/DDR von 1945 bis 1952 am Beispiel Thüringens (= Schriften zur Rechtswissenschaft; Bd. 107), Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2008, 328 S., ISBN 978-3-86573-406-8, EUR 42,00
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Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden bekanntlich in der sowjetischen Besatzungszone rasch die Weichen in Richtung Einheitssozialversicherung gestellt. Zwischen den von der SMAD zugelassenen Parteien war das Ziel einer Vereinigung sämtlicher Versicherungszweige und -träger sowie die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf nahezu alle Berufs- und Bevölkerungsgruppen im Grundsatz unstrittig. Die sowjetische Besatzungsmacht verhinderte in ihrer Zone den Wiederaufbau von Interessenorganisationen, sodass sich im Gegensatz zu den westlichen Besatzungszonen kein Widerstand gegen die Neuordnung des Systems sozialer Sicherheit formieren konnte. Mit der Gründung der Zentralverwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge (ZVAS) im Sommer 1945 schien sich ein rascher Abschluss dieses alten Reformprojektes der deutschen Arbeiterbewegung abzuzeichnen. Da die Sowjetunion jedoch den Ausgang der Verhandlungen im Alliierten Kontrollrat abwarten wollte, untersagte Karlshorst der ostdeutschen Verwaltung bis Ende 1946, eine entsprechende Verordnung zu erlassen, die die Sozialversicherung in der SBZ zwar vereinheitlicht, den Graben zu den Westzonen aber vertieft hätte.
So konnte der Aufbau der Einheitssozialversicherung zunächst nur auf Länderebene erfolgen. Das untersucht Sandra Carius in der vorliegenden rechtshistorischen Studie, die auf ihrer Dissertation an der Universität Jena aus dem Jahr 2001 basiert, eingehend am Beispiel Thüringens. Die Autorin hat die einschlägigen Aktenbestände der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) sowie insbesondere des thüringischen Hauptstaatsarchivs ausgewertet. Die wichtigsten Entwicklungsstationen sind bereits seit einiger Zeit bekannt: Die Landesregierungen reagierten anfangs sehr reserviert auf die Umstrukturierungspläne, denn sie befürchteten eine zunehmende Zentralisierung der Sozialversicherung in den Händen der Berliner Zentralverwaltung. ZVAS und Landesverwaltungen arbeiteten in der Frühphase parallel am Aufbau der Einheitsversicherung, allerdings mit zum Teil gegensätzlicher Zielrichtung. Während die Zentralverwaltung daran interessiert war, ihren Zuständigkeitsbereich zu Lasten der Länder ständig zu erweitern, waren die zuständigen Landesministerien darauf bedacht, ihren Einfluss zu wahren. Somit ging es gar nicht um unterschiedliche inhaltliche Auffassungen, sondern lediglich um Fragen des institutionellen Aufbaus und der Kompetenzverteilung. Unter dem Dach der Landesversicherungsanstalten wurden die Orts-, Betriebs-, Innungs- und Landkrankenkassen sowie die Ersatzkassen und alle Renten- und Unfallversicherungsträger vereinigt. Carius schildert - nach einem sehr knappen historischen Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung der Bismarck'schen Sozialversicherung bis 1945 - detailliert den Verwaltungsaufbau in Thüringen und beschreibt den Ausbau der Sozialleistungen in den einzelnen Versicherungszweigen.
In den Ländern erfolgte als erstes der Zusammenschluss der Krankenversicherungsträger, der trotz anfänglichen Widerstands noch bestehender Kassen rasch abgeschlossen wurde. Die neu gebildete Krankenversicherung übernahm in der Folge auch Aufgaben der Renten- und Unfallversicherung und entwickelte sich zum Nukleus der Einheitssozialversicherung. Als Letztes nahmen die Landesverwaltungen die Rentenauszahlung in einem stark eingeschränkten Umfang wieder auf. Erst Anfang 1946 konnte hier mit der Leistungsauszahlung begonnen werden, wobei anfangs nur die Hälfte des in der alten Reichsversicherungsordnung vorgesehenen Rentensatzes gewährt wurde. Die Landesverwaltungen führten sowohl eine Mindestrente als auch eine Höchstgrenze bei der Rentengewährung ein. Die Mindestrente sollte ein Existenzminimum garantieren. Trotz mehrmaliger Erhöhung durch die ZVAS reichte sie jedoch nicht zur Deckung des Lebensunterhaltes der Rentner in der SBZ/DDR aus. Auch der Neuanfang in der Arbeitslosenversicherung verlief nicht ohne Schwierigkeiten. Dieser Zweig des Systems sozialer Sicherheit war sogar im ersten Entwurf der Sozialversicherungsordnung noch gar nicht vorgesehen. Sowohl ZVAS als auch SED-Führung gingen davon aus, dass es in Deutschland keine Arbeitslosigkeit mehr geben werde und von daher ein eigenständiger Versicherungszweig nicht notwendig sei. Die Nachkriegsarmut und vor allem das Ansteigen der Arbeitslosenzahlen 1947 belehrten jedoch die politisch Verantwortlichen eines Besseren.
Die Autorin geht in ihrer Studie auch ausführlich auf den SMAD-Befehl Nr. 28 vom 28. Januar 1947 ein, der die Vereinheitlichung der Sozialversicherung auf zonaler Ebene einleitete. Die drei Teilverordnungen bildeten das rechtliche Fundament der Sozialversicherung, das in seinen wichtigsten Elementen nahezu unverändert bestehen blieb. Die Verordnung über die Sozialpflichtversicherung schrieb das Prinzip der Volksversicherung fest. Es wurde keine versicherungsrechtliche Unterscheidung mehr zwischen einzelnen Berufsgruppen getroffen. Die Einebnung sozialrechtlicher Unterschiede betraf die besonders in Deutschland stark ausgeprägte sogenannte Kragenlinie, d.h. die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten. Für die Angestellten wurde keine eigenständige Versicherung aufgebaut. Außerdem verloren die Beamten ihre bisherige Sonderstellung im System sozialer Sicherheit. Carius weist aber zu Recht auch darauf hin, dass das Prinzip der Einheitssozialversicherung mit einem für alle Beschäftigten einheitlichen Leistungssystem noch vor der DDR-Gründung durchbrochen wurde. Als eine für den wirtschaftlichen Aufbau des Landes wichtige Berufsgruppe behielten etwa die Bergarbeiter einige ihrer aus der Tradition der Knappschaft stammenden Sonderrechte. Das individuelle Einkommen wurde als Kriterium für die Zugehörigkeit zur Sozialpflichtversicherung bedeutungslos. Entscheidend war vielmehr die Anzahl der Beschäftigten: Nur die Selbstständigen mit mehr als fünf Beschäftigten blieben aus der Einheitsversicherung ausgeschlossen. Für diese Personengruppe, die durch die Zentralverwaltungswirtschaft ökonomisch immer weiter ins Abseits gedrängt wurde, schuf die SED-Führung eine sogenannte freiwillige Versicherung mit schlechteren Konditionen. Der Befehl Nr. 28 übernahm von den gesetzlichen Regelungen auf Landesebene unter anderem auch das Versicherungsprinzip. Alle Versicherten hatten zehn Prozent ihres monatlichen Bruttoeinkommens an die Sozialversicherung abzuführen; die Beitragsbemessungsgrenze lag bei 600,- DM (Ost). Das Beitragssystem wurde im Übrigen bis zum Untergang der DDR nicht an die sich ändernden sozioökonomischen Rahmenbedingungen angepasst.
Carius untersucht außerdem die Personalpolitik in der Sozialversicherungsanstalt (SVA) Thüringen. Dabei thematisiert sie unter anderem die Entnazifizierung in den ersten Nachkriegsjahren sowie die Kaderpolitik Anfang der fünfziger Jahre, obwohl der personelle Umbau 1949 schon weitgehend abgeschlossen war. Als Leser hätte man sich noch Genaueres über die Ausschaltung ehemaliger Sozialdemokraten in der Versicherungsverwaltung und deren Ersetzung durch Kommunisten gewünscht. Die Studie schließt zeitlich gesehen mit dem Ende der selbstverwalteten SVA Thüringen und der Errichtung einer zentralen Sozialversicherungsanstalt 1951/52. Die Autorin bestätigt das Urteil bisheriger Forschungsarbeiten, die den Einfluss der sowjetischen Besatzungsmacht auf dem Gebiet der Sozialversicherung sehr gering veranschlagt haben. Besonders aufschlussreich sind die Buchpassagen, in denen Carius den Widerstand der Betriebskrankenkasse Carl-Zeiss Jena schildert. Sie kann nachweisen, dass der Protest gegen die Schließung von Sondereinrichtungen umso erfolgreicher war, je stärker die wirtschaftlichen Interessen der SMA bzw. SED tangiert wurden (290). Insgesamt handelt es sich um eine handwerklich solide Studie, die am Ende aber eine nicht unwichtige Frage offen lässt: Welche Bedeutung kommt dem Land Thüringen bei der Neugestaltung der Sozialversicherung noch zu, wenn die Verfasserin mehrmals zu Recht auf den nicht nur politisch, sondern auch finanzpolitisch äußerst engen Gestaltungsspielraum der Landesregierung hinweist?
Dierk Hoffmann