Rezension über:

Wolfgang Cortjaens / Jan De Maeyer / Tom Verschaffel (eds.): Historismus und kulturelle Identität im Raum Rhein-Maas. Das 19. Jahrhundert im Spannungsfeld von Regionalismus und Nationalismus, Leuven: Leuven University Press 2008, 432 S., ISBN 978-90-5867-666-5, EUR 79,50
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Rezension von:
Anke Reiß
Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Stefanie Lieb
Empfohlene Zitierweise:
Anke Reiß: Rezension von: Wolfgang Cortjaens / Jan De Maeyer / Tom Verschaffel (eds.): Historismus und kulturelle Identität im Raum Rhein-Maas. Das 19. Jahrhundert im Spannungsfeld von Regionalismus und Nationalismus, Leuven: Leuven University Press 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11 [15.11.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/11/16044.html


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Wolfgang Cortjaens / Jan De Maeyer / Tom Verschaffel (eds.): Historismus und kulturelle Identität im Raum Rhein-Maas

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Der voluminöse Aufsatzband mit insgesamt 19 Beiträgen in deutscher und englischer Sprache sowie reicher Bebilderung wirkt wie ein hochwertiger Ausstellungskatalog und ist Ergebnis eines 2004 abgehaltenen Workshops am KADOC - K.U.Leuven. Federführend zeigt sich Wolfgang Cortjaens, der sich in einem Post-Doc-Fellowship des Themas annahm und mit vier Beiträgen vertreten ist. Die regionale Zugehörigkeit der Bevölkerung des Rhein-Maas-Gebietes unterliegt im 19. Jahrhundert einer Transformation in ein neues, unterscheidbares Nationalbewusstsein der Staaten Niederlande, Belgien und Deutschland.

Anhand einzelner Phänomene der Geschichte und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts wird eine mögliche, einheitliche Ausprägung einer gemeinsamen Identität des Rhein-Maas-Gebietes untersucht, die aufgrund religionsmotivierter und identitätsstiftender Regionalismen mithilfe des Historismus in Wechselwirkung zu einem neuen Nationenbegriff gestaltet wird. Die Einführung der Herausgeber Cortjaens, De Maeyer und Verschaffel "Verkehrte Welt. Regionale Identität als Katalysator moderner Nationenbildung. Eine Einführung" (englisch: 7-32; deutsch: 33-57) liegt als zweisprachige Version vor und steckt den Rahmen der Beiträge ab. Der Zeitrahmen wird dort logisch zwischen Wiener Kongress und 1. Weltkrieg verankert.

Die Forscher zeigen, dass kunst-, kultur- und religionsgeschichtliche Phänomene einen Kulturraum unterschiedlich betreffen können, der mit Stiftung nationalen Bewusstseins im Historismus die Diversität lokaler Gemeinschaften ausbilden wird (38). Die hier geleistete grenzübergreifende multidisziplinäre Zusammenarbeit eignet sich für das Rhein-Maas-Gebiet besonders gut. In einer punktuellen Betrachtung sollen Wirkungsmechanismen regionaler und nationaler Interessen nachvollzogen werden (37). Die Autoren liefern hier einen ausführlichen historischen und somit politischen Überblick der Region (38-50), daran anschließend folgt eine genaue Darstellung des Konzepts (51-56) mit einer Kurzbeschreibung der weiteren Artikel.

Diese sind als regionale Einzelbeiträge in vier Sektionen gegliedert. In "Gesellschaftlicher und kirchenhistorischer Kontext" (59-136) geben vier Beiträge Einblick in Themen wie die komplizierten historischen und kirchenpolitischen Hintergründe des Rhein-Maas-Gebietes von 1814 bis zum Ende des Kulturkampfes (deutsch; 58-85), die Untersuchungen zu neuen Begriffen wie Heimat, Gemeinschaft und Provinz als Basis des Nationenbildes von Belgien, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden (englisch; 88-93) und die Einbindung der regionalen Bauschulen in die nationale Architekturgeschichtsschreibung des deutschen Vormärz (1830-1848) im neu gestalteten Preußen (deutsch; 94-111), sowie schließlich die Verwendung der Sprache als Indiz der kulturellen Identität, die von nationaler Identität abgelöst wird. (deutsch; 112-135) Insbesondere wird dies deutlich gemacht am Beispiel der deutschen Sprache als katholische Kirchensprache in der niederländischen Region Südlimburg bis 1940.

In der zweiten Sektion werden Organisationsstrukturen kirchlicher Kunst behandelt (137-204). Hier werden die spezifischen Dombauvereine oder Künstlergruppen des 19. Jahrhunderts dieser Provinz vorgestellt und ihre regionale bzw. später nationale Ausrichtung erläutert. Der dritte und ausführlichste Teil wird ganz allgemein als "Kunstzentren" (205-332) benannt. Es geht hier um den kunsthistorischen Einfluss der römisch-katholischen Kirche auf Orte wie Roermond, Utrecht, Lüttich und Kevelaer sowie der Neugotik in der Rheinprovinz.

In der vierten und letzten Sektion werden vier Persönlichkeiten, die eng mit dem katholischen Kunstschaffen des Rhein-Maas-Gebietes verbunden waren, in ihren Einzelbiografien vorgestellt (333-393): Der Architekt und Bauhistoriker Lambert von Fisenne (1852-1903), der Goldschmied Reinhold Vasters (1827-1909), der Kunsttheoretiker August Reichensperger (1808-1895) und der Maler Jules Helbig (1821-1906).

Cortjaens und den Autoren gelingt es, einen neuen Blickwinkel auf die Epoche des Historismus zu eröffnen. Mit dem Nachweis, dass der Historismus des 19. Jahrhunderts das nationale Bewusstsein fördern soll und vor allem in Grenzregionen versucht, eine Diversifizierung der Kultur herbeizuführen. Während in der heutigen Tages- und Europapolitik die regionalen Unterschiede wieder mehr an Gewicht gewinnen und Kulturregionen wie Rhein-Maas-Gebiet als "EUregio" oder der Alpenraum flächendeckende und grenzübergreifende Forschungen hervorbringen, zeigte sich vor 200 Jahren eine politische Richtung des Pflegens von interregionalen Unterschieden. Dies konnte von den Autoren mit dem Ausgangspunkt der Lage der katholischen Kirche in diesem historisch eng verwobenen Gebiet deutlich belegt werden. Umfassend wird auf verschiedene Phänomene des 19. Jahrhunderts auf niederländischer, belgischer und deutscher Seite hingewiesen, ohne Grenzverschiebungen oder fundamentalen Wandel der Zeit bis nach dem 2. Weltkrieg aus den Augen zu verlieren. Damit liefern die Autoren einen interessanten neuen Ansatz, der den Historismus aus der rein dekorativen Ecke der Kunstgeschichte befreit und dessen Instrumentalisierung beleuchtet, also hier von regionaler Identität zu einer nationalen Identitätsschöpfung.

Für den Laien eröffnet sich dieser Blickwinkel nur schwer, der Zugang zu diesem großen Aufsatzband wird sich dadurch etwas schwieriger gestalten. Die langen Überschriften der Artikel tragen nicht wirklich zu einer Klärung bei. Wissenschaftlicher Ansatz und spezielle Fragestellung der Geschichte der katholischen Kirche erschließen sich erst im Verlauf der Lektüre. Die Diversität des Historismus sowie der Region spiegelt sich in einer Vielzahl eigenständiger Artikel wider, deren logische Einbettung in das Gesamtphänomen aufgrund der bloßen Aneinanderreihung nicht immer deutlich wird.

Eine überblickende Zusammenfassung, die zwar in der Einführung von den Herausgebern sehr kurz als Ausblick auf die einzelnen Texte vorgestellt wird, würde am Ende zur Erfassung des Gesamtzusammenhangs positiv beitragen. Dort wäre auch der Raum, dieses sehr präzise beschriebene Phänomen der Instrumentalisierung des Historismus aus der regionalen in eine nationale Ebene auf einer Art Metaebene in einen größeren Rahmen zu verorten. Somit fehlt die Klärung, ob es sich hierbei um ein rein singuläres Phänomen der katholischen Kirche des Rhein-Maas-Gebiets handelt oder ob weitere soziale und religiöse Gruppierungen sowie andere europäische Regionen ebenfalls diesem Phänomen unterliegen.

Trotz aller marginalen Kritikpunkte ist es den Forschern gelungen, einen neuen Aspekt des Historismus zu beleuchten. Regionale Identitäten, im 19. Jahrhundert nur latent nachweisbar, werden aufgelöst durch Nationalstaaten am Beispiel der Katholiken des Rhein-Maas-Gebietes (56-57), damit tritt der katholisch-religionswissenschaftlich geprägte Ausgangspunkt zu Tage, der durchaus legitim ist.

Hinzuweisen ist noch auf die detaillierten Abbildungsunterschriften und eine ausführliche Bibliografie. Die Autoren beschäftigen sich mit der Phase des Historismus, die aufgrund dessen Pluralismus auch politische und religiöse Hintergründe der Bewegung nicht vernachlässigt. Ein Ansatz, der die Zeitspanne ganzheitlich betrachtet und nicht nur Einzelbeispiele oberflächlich darstellt. Gerade den Phänomenen des 19. Jahrhunderts fehlt diese disziplinübergreifende, tiefer vordringende Betrachtung noch, Cortjaens und die Autoren leisten hier einen sehr wertvollen Beitrag.

Anke Reiß