Lucia Scherzberg (Hg.): Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus. In Zusammenarbeit mit Werner Müller, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008, 255 S., ISBN 978-3-506-76501-7, EUR 29,90
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In seiner Rezension des im Jahr 2005 von Lucia Scherzberg herausgegebenen Sammelbandes zu "Theologie und Vergangenheitsbewältigung" hatte Christian Schmidtmann gemutmaßt, dass "hier erneut eine Diskussion um das Verhältnis von Nationalsozialismus und Modernisierung" anstünde und den Wunsch nach weiteren Publikationen zu diesem Themenkomplex mit interdisziplinärem Ansatz zum Ausdruck gebracht. [1] Dem ist die Herausgeberin mit dem hier zu besprechenden, aus einer Tagung in Trier im Jahr 2007 hervorgegangenen Band [2] nachgekommen, den sie als Fortsetzung mit neuen Vergleichsgegenständen konzipiert hat - allerdings fehlt diesmal die Interdisziplinarität.
Nach kurzer Irritation über den auch in diesem Band ohne Anführungszeichen im Titel stehenden Begriff "Vergangenheitsbewältigung" fragt man sich, ob es bei einem Vergleich von katholischer und evangelischer Kirche zwischen 1930 und 1950 nicht nahe liegender gewesen wäre, anstatt Frankreich und Deutschland Italien und Deutschland zu vergleichen. Denn auch in Italien gab es nach einer Annäherung von Kirche und faschistischem Regime, die mit den Lateranverträgen von 1929 besiegelt wurde, kritische Stimmen im Katholizismus gegen die totalitäre Entwicklung unter Mussolini. In der Einleitung findet sich kein Begründung, warum Scherzberg gerade den "französischen Katholizismus und den deutschen Protestantismus während und nach der Zeit des Nationalsozialismus" (9) vergleichen will. Auch liegt der Schwerpunkt vor allem der Beiträge zum Katholizismus weniger auf der "Vergangenheitsbewältigung" als auf der Theologie zwischen 1930 und 1950, was sich jedoch im Titel des Tagungsbandes nicht bemerkbar macht.
Den sieben Beiträgen zum französischen Katholizismus stehen im zweiten Teil des Buches sechs Aufsätze zum deutschen Protestantismus gegenüber. Unverständlicherweise steht erst an zweiter Stelle der einführende Beitrag der Herausgeberin über deutsche und französische katholische Reformtheologen. Scherzberg stellt am Beispiel von Karl Adam und Henri de Lubac fest, dass die deutschen Reformtheologen im Nationalsozialismus modernisierende Kräfte auszumachen meinten, die sie für ihre Pläne der Reformierung der katholischen Kirche nutzen wollten, während die französischen Reformkatholiken eher gegen das Vichy-Regime opponiert hätten. Die Reformtheologen hatten ein sehr unterschiedliches Verständnis von "Natur und Gnade", denn die Franzosen hatten keinen biologistischen Begriff von Natur und leiteten demzufolge keine "völkische und rassistische Ideologie" (47) daraus ab. Gemeinsamkeiten macht Scherzberg hingegen beim Verständnis von der "Kirche als Gemeinschaft" anstatt als "Heilsanstalt" wie bei "antidemokratischen und antiindividualistischen" Gemeinschaftsideologien aus (56).
Die Facetten der "résistance spirituelle", in der de Lubac maßgeblich mitwirkte, erläutert Bernhard Comte am Beispiel einiger französischer Theologen. Motiviert durch ihren christlichen Glauben, widersetzten sie sich der NS-Herrschaft mit den "Waffen des Geistes" (58), Predigten, Untergrundschriften und kamen über ihren gemeinsamen Kampf zu "grundlegenden Erfahrungen" (75), die die Weiterentwicklung des Katholizismus in Frankreich maßgeblich beeinflusst haben. Wilfried Loth weist überzeugend nach, dass sich sowohl die Traditionalisten als auch die "Modernisten" des französischen Katholizismus für das Vichy-Regime einsetzten, wobei einige von ihnen über die "nationale Revolution" (146) verspätet doch den Weg in die Résistance fanden, andere hingegen frühzeitig die Bedrohung durch eine nationalsozialistische Herrschaft in Europa wahrnahmen und sich im Widerstand engagierten.
Eine andere Strömung unter den französischen Katholiken, die angesichts der Überschneidungen zwischen dem Programm der "nationalen Revolution" und dem Gedankengut des Katholizismus die "französische katholische nationale Revolution" (101) erfanden, stellt John W. Hellmann dar, während Étienne Fouilloux die Auseinandersetzungen zwischen den Pétain unterstützenden Theologen mit "Amt und Mandat" und den Regime-kritischen "anonymen Theologen ohne Mandat" (34), den katholischen Widerständlern, schildert. Eine "Rekontextualisierung" (105) des Herausgebers der katholischen Monatsschrift Esprit, die für die Erfinder der französisch-katholisch-nationalen Revolution eine wichtige Rolle spielte, wird von Seth D. Arms vorgenommen. Er beschreibt den Philosophen Emmanuel Mouniers als schillernde Persönlichkeit, als "Spiritualisten", "Pétainisten" und "Marxisten" (103), dessen Antiamerikanismus als Schlüssel seines gesamten Denkens interpretiert werden müsse. Der letzte Beitrag des ersten Teils von Wilfried Loth erhellt den Einfluss des zwar katholisch sozialisierten, doch später dem Katholizismus klar abgeneigten Martin Heidegger, vor allem der "nationalsozialistisch aufgeladenen" (10) Elemente seiner Philosophie, auf französische Katholiken.
Als Einführung in den zweiten Teil, der deutlich weniger Überscheidungen zwischen den einzelnen Beiträgen aufweist, lässt sich Manfred Gailus' Skizze der Diskurse über "Protestantismus und Nationalsozialismus" lesen. Dominierte in den ersten Jahren nach Kriegsende die Sicht auf die "'wahre', rechtgläubige Bekennende Kirche" im "Kirchenkampf" gegen den Nationalsozialismus (157), so öffnete sich der Blick zwischen 1960 und 1980 für den gesamten Protestantismus und lange tabuisierte Themen, um etwa 1990 die Grenzen zwischen "Kirchengeschichte" und "Profangeschichte" aufzulösen und so die "Dekonstruktionsarbeit am alten Geschichtsbild" (162) weiterzuführen. Björn Krondorfer nähert sich am Beispiel Helmut Thielickes, der der Bekennenden Kirche angehört hatte, dem Thema "protestantische Theologenautobiographien und Vergangenheitsbewältigung", und Alf Christophersen untersucht die "Aspekte theologischer Legitimationszwänge und -strategien" nach 1945.
In Deutschland kann man erst seit der Weimarer Republik von einem eigenständigen Fach Religionswissenschaften an deutschen Universitäten sprechen, das zwischen 1933 und 1945 in Konkurrenz zur Theologie trat. Ohne durchschlagenden Erfolg propagierten Religionswissenschaftler eine "arische Rassenreligion" (233) und repräsentierten mit ihrer "sehr abstrakten und nicht institutionalisierten" Religiosität eine von der "traditionellen Kirchlichkeit wegführende" Form religiöser Gemeinschaft (234), wie Horst Junginger in seinem Beitrag herausarbeitet. Aus systematisch-theologischer Perspektive analysiert Michael Hüttenhoff am Beispiel Emanuel Hirsch dessen in der Formulierung zwar gekonnte, doch unkritische Verflechtung von Nationalsozialismus und Wissenschaft. Die Genese und Verbreitung eines "Mythos vom arischen Jesus" (173), die Martin Leutzsch in ihren fünf Phasen zwischen 1870 und 1945 nachzeichnet, verdeutlicht, dass derartige Mythen eine breite Legitimationsbasis für antisemitische Bestrebungen boten.
Insgesamt bietet der Tagungsband, dem leider ein Resümee fehlt, einen bunten Einblick in ein wichtiges Thema, das aber in interdisziplinärer Perspektive weiterverfolgt werden sollte.
Anmerkungen:
[1] Christian Schmidtmann: Rezension von: Lucia Scherzberg (Hg.): Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich. In Zusammenarbeit mit Werner Müller, Paderborn: Schöningh 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 6 [15.06.2006], URL: http://www.sehepunkte.de/2006/06/9827.html (2.10.2009).
[2] Vgl. Tagungsbericht Theologie und Vergangenheitsbewältigung II. Französischer Katholizismus - deutscher Protestantismus 1930-1950. 12.01.2007-14.01.2007, Trier, in: H-Soz-u-Kult, 13.03.2007, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1514 (14.10.2009).
Anke Silomon