Ulrike Ludwig: Philippismus und orthodoxes Luthertum an der Universität Wittenberg. Die Rolle Jakob Andreäs im lutherischen Konfessionalisierungsprozeß Kursachsens (1576-1580) (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte; Bd. 153), Münster: Aschendorff 2009, XII + 582 S., ISBN 978-3-402-11578-7, EUR 69,00
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Wittenberg und Leipzig verbinden sich in dieser allgemeinhistorischen Studie in mehrfacher Hinsicht miteinander. Zum einen wurde mit ihr die gebürtige Wittenbergerin Ludwig 2007 in Leipzig promoviert. Sodann gilt die Untersuchung Kursachsen als jenem Territorium, in dem beide Universitäten lagen und sich je für sich behaupten mussten. Und schließlich verweist das im Untertitel benannte Jahr 1580 auf die Verabschiedung einer landesweit einheitlichen Universitätsordnung, mit der die beiden lokalen Reglemente abgelöst wurden.
Die Arbeit erklärt zu ihrem "Ziel" (7, 18, 446), die Entstehungsgeschichte der kursächsischen Universitätsordnung anhand der verfügbaren Quellen darzustellen. Der Hinweis auf die wirkungsgeschichtliche Bedeutung des Textes, der für Leipzig "in [...] Grundzügen bis 1830" (412) gegolten habe, steht eher beiläufig. Für Ludwig besitzen die Entwicklungen, die für das Jahrzehnt bis 1580 aus verstreuten Archivalien akribisch erhoben werden, eine doppelte Relevanz. Zum einen gelten sie als Ausdruck einer Territorialisierung, da Kurfürst August die Vereinheitlichung seines Regierungsgebietes vorangetrieben habe. Zum anderen versteht die Autorin die Vorgänge als "weichenstellend" (429) für die Konfessionalisierung, mit der in Kursachsen die "Grundlage für die große Bedeutung [...] als orthodox-lutherisches Territorium im 17. und 18. Jahrhundert" (446) geschaffen worden sei.
Gegliedert ist die Studie in sieben Kapitel. Die Einleitung (Kap. 1) bietet thematische, materiale und begriffliche Orientierung. Die titelgebenden Klassifizierungen "Philippismus" und "orthodoxes Luthertum" werden in ihrer Spezifik vorgestellt. Der Sprachgebrauch des "Philippismus" schließt an den von Leipziger Kirchenhistorikern geprägten und gepflegten an (Wartenberg, Koch, Junghans, Hasse). Auch die formale und inhaltliche Distanzierung vom Begriff des "Kryptocalvinismus" entspricht der Hasses.[1] Um so ungewöhnlicher ist, dass die Autorin die Gruppenbezeichnung der "Gnesiolutheraner" für den Untersuchungszeitraum (1574 bis 1580) durch "strenge", "rechtgläubige" oder "orthodoxe Lutheraner" ersetzt. Damit möchte Ludwig einerseits den Unterschied zu einer erst 1580 einsetzenden lutherischen Orthodoxie markieren, andererseits sollen Kontinuitäten herausgestellt werden (16f.). Ludwigs Sprachgebrauch ist in sich konsequent, einer weiteren Rezeption aber nicht anzuempfehlen. In der jüngeren und älteren Literatur sind Referenzen auf "orthodoxe Lutheraner" für die Zeit nach 1580 zu verbreitet, als dass für die Jahre vorab eine Differenzierung ohne erklärende Zusätze möglich wäre.
Die Frontstellung zwischen "Philippisten" und "orthodoxen Lutheranern" bestimmt die vier inhaltlichen Hauptkapitel (Kap. 2-5). Holzschnittartig verkürzt gelten die beiden ersten einer genetischen Entwicklung des "Philippismus". Diese reicht (Kap. 2) mit den humanistischen Anfängen der Leucorea zu deren Gründung zurück, verbindet sich mit Melanchthons Lehrtätigkeit und setzt sich mit dessen Schülern sowie deren Personalpolitik fächer- und fakultätsübergreifend fort. Eine exemplarische Schilderung des Bildungs- und Lebensweges Caspar Peucers illustriert diese Strukturelemente. Der im Auftrag von Peucer erstellte und von der theologischen Fakultät approbierte "Wittenberger Katechismus" führte 1571 zu den Vorwürfen calvinistischer Lehren (Kap. 3), die sich 1574 verschärften. Kurfürst August reagierte zunächst apologetisch, entschied sich dann aber für einen forcierten Anschluss an die Konkordienbewegung und eine offensive Politik gegen widerstrebende Amtsträger. Den "Sturz des Philippismus" 1574 an der Wittenberger Universität schildert Ludwig in teilweiser Überschneidung ihrer Quellenarbeit mit Hasse, aber auch anhand der universitären Umbesetzungen und studentischer Proteste, die auf eine Wiedereinstellung der entlassenen akademischen Lehrer zielten.
1576 wurde der Hauptprotagonist des Konkordienwerkes, Jakob Andreä, gewonnen, um den konfessionspolitischen Kurs Kursachsens beratend und gestalterisch zu begleiten. Die Andreä und dessen Reformen gewidmeten Kapitel versteht Ludwig als "Kernstücke der Arbeit" (3). Sie lösen die zweite Ankündigung der Überschrift ein. Das "orthodoxe Luthertum" begegnet personal in dem Tübinger Theologen und dessen fünfjährigem Wirken in Kursachsen (Kap. 4), strukturell in der abschließenden Universitätsordnung (Kap. 5). Der inhaltliche Schwerpunkt liegt im ersten der beiden Kapitel, das die spannungsreichen Auseinandersetzungen um Andreä auf mehreren amtlichen und institutionellen Ebenen dokumentiert. Ein besonderes Filetstück bietet Ludwig mit einem predigtgeschichtlichen Unterkapitel, das Andreäs Werben für die Reformen in unterschiedlichen städtischen und kirchlichen Adressatenkreisen nachzeichnet. Die systematische Zusammenfassung der Universitätsordnung bezieht Leipzig und Tübingen vergleichend ein, verbleibt gegenüber dem dynamischen und vielschichtigen Vorkapitel weithin statisch und additiv. Wesentliche Impulse Andreäs liegen in der Wiedereinführung einer (theologisch besetzten) Zentralinstanz des Kanzlers, der Verbindung theologischer Lehrämter mit kirchlichen Predigtpflichten und einer supervisorisch bestimmten Öffentlichkeit regelmäßiger Disputationen und Visitationen. Zudem sollte das landeseigene Stipendienwesen gestärkt werden.
"Ein Ausblick" skizziert die von konfessionellen Kurswechseln geprägte Entwicklung bis 1602 (Kap. 6), bevor ein "Fazit in 17 Thesen" (Kap. 7) eine Gesamtzusammenfassung vornimmt. Ein Anhang umfasst 17 Quellenbeilagen und 16 Abbildungen. Die Dokumente sind sorgfältig ausgewählt und ediert. Gleichwohl hätte die Integration in den Haupttext gestärkt werden können, der nur in vereinzelten Fußnoten auf einige der Materialien hinweist. Bei den übrigen Querverweisen innerhalb der Arbeit wünscht sich der Leser Seitenangaben, zumal die umfangreiche Arbeit außer dem knappen Schlusskapitel nur vier sporadische Teilzusammenfassungen einrückt und auf ein Sachregister verzichtet.
In materialer Hinsicht hat Ludwig vorbildliche Archivarbeit geleistet und bietet argumentationsgeschichtlich sensible Ausdeutungen der vielfältigen Quellen (u.a. Korrespondenzen, Gutachten, Visitationsberichte, "Ego-Dokumente" [156f.], Predigten). Heuristisch und thematisch beschränkt sich Ludwig bewusst auf die Universitätsordnung, die von der zeitgleichen Kirchen- und Schulordnung isoliert wird. Gravierender ist, dass der genuine inhaltliche Zusammenhang mit der Konkordienbewegung zurücktritt. Konfessionalisierung und Territorialisierung markieren den Rahmen der Interpretation. Sachlich mag dies angemessen sein, inhaltlich leuchten die Motive und Selbstverständnisse der Protagonisten nur unzureichend oder punktuell auf (etwa in den Predigtauszügen des Anhangs [472-482] mit Andreäs Ausführungen zum lutherischen Abendmahlsverständnis). Diese Spannung bestimmt auch Ludwigs Vorschlag, die lutherische Predigt als Ausdruck von Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung zu verstehen (172f., 289f.).
Einzelne Thesen überzeugen aufgrund der gebotenen Quellenarbeit nicht. Ungestützt ist die Aussage, Kurfürst August habe mit Andreä "bewußt" einen auswärtigen Theologen eingesetzt, um die landeseigene Funktionselite "effektiver [... zu] übergehen" (439). Die Interessen an der Berufung und Absetzung Andreäs bleiben in den herangezogenen Archivalien weithin unbestimmt. Teilweise ist dies sicher quellenbedingt. Es mag jedoch auch an der Heuristik liegen, die mit dem universitätsgeschichtlichen Fokus etwa die Dresdner Hofprediger (Listhenius in Sym- [163] und Mirus in Antipathie [228]) nur am Rande auftreten lässt.
Im Ganzen beschränkt sich Ludwigs verdienstvolle Monografie nicht darauf, "Universitätsgeschichte als Landesgeschichte" zu betreiben, wie der Titel eines unlängst erschienenen Sammelbandes lautet. [2] Sie arbeitet allgemeinhistorisch, bewegt sich aber in so enger Tuchfühlung mit der Kirchengeschichte, dass sie deren jüngere Arbeiten bedeutend ergänzt. Dies gilt sowohl für die Verhältnisbestimmung zwischen Universität und Konfessionalisierung [3] als auch die Universitätsgeschichte Wittenbergs [4] im Besonderen. Ludwigs Wunsch nach einer eigenen Studie zur kursächsischen Kirchenordnung von 1580 mag man sich anschließen. Diese könnte es auch unternehmen, die innertheologischen und kirchlichen Beziehungen Andreäs in Kursachsen eingehender zu profilieren.
Anmerkungen:
[1] Hans-Peter Hasse: Zensur theologischer Bücher in Kursachsen im konfessionellen Zeitalter. Studien zur kursächsischen Literatur- und Religionspolitik in den Jahren 1569-1575 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte; 5), Leipzig 2000.
[2] Detlef Döring (Hg.): Universitätsgeschichte als Landesgeschichte. Die Universität Leipzig in ihren territorialgeschichtlichen Bezügen (= Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; A 4), Leipzig 2007.
[3] Den kirchenhistorischen Anschluss der Universitätsgeschichtsschreibung an das Konfessionalisierungsparadigma vollzog Thomas Kaufmann: Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1550 und 1675 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte; 66), Gütersloh 1997.
[4] Andreas Gößner: Die Studenten an der Universität Wittenberg. Studien zur Kulturgeschichte des studentischen Alltags und zum Stipendienwesen in der zweiten Hälfe des 16. Jahrhunderts (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte; 9), Leipzig 2003. Kenneth G. Appold: Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710 (= Beiträge zur historischen Theologie; 127), Tübingen 2004. Marcel Nieden: Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung (= Spätmittelalter und Reformation; N.R. 28), Tübingen 2004.
Martin Keßler