Matthias Bruhn: Das Bild. Theorie - Geschichte - Praxis (= Akademie Studienbücher Kulturwissenschaften), Berlin: Akademie Verlag 2009, 255 S., ISBN 978-3-05-004367-8, EUR 19,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Victor Ieronim Stoichita: The Pygmalion Effect. From Ovid to Hitchcock, Chicago: University of Chicago Press 2008
Gerd Blum / Steffen Bogen / David Ganz u.a. (Hgg.): Pendant Plus. Praktiken der Bildkombinatorik, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2012
Anja Zimmermann (Hg.): Biologische Metaphern. Zwischen Kunst, Kunstgeschichte und Wissenschaft in Neuzeit und Moderne, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2014
Bilder begleiten uns ständig. Wir sehen sie auf Postern und Werbeprospekten, in Zeitungen, im Internet oder im Fernsehen. Normalerweise fallen sie uns nicht weiter auf. Sie umgeben uns wie andere Alltagsgegenstände auch. Beschäftigt man sich allerdings kunsthistorisch mit ihnen, werden sie zu einer Wissenschaft. Und es ist keinesfalls einfach, sich in dieser Wissenschaft zurechtzufinden. Das vorliegende Studienbuch von Matthias Bruhn, Mitbegründer des internationalen kunsthistorischen Netzwerkes ArtHist und Leiter der Abteilung "Das technische Bild" am Hermann von Helmholtz-Zentrum der Humboldt-Universität zu Berlin, möchte dem Leser helfen, sich innerhalb der Bildwissenschaft zu orientieren.
Dem Titel zufolge geht es in dem Buch um Theorie, Geschichte und Praxis des Bildes. Anders jedoch als zu vermuten, wird nicht chronologisch vorgegangen, sondern mit thematischen Querschnitten operiert. Die zu besprechenden Bilder und Begriffe werden weitgehend aus ihren historischen Zusammenhängen gelöst und in neuen thematischen Blöcken zusammengefasst. Die Titel der dergestalt konzipierten Kapitel lauten "Das Bild vom Bild", "Systeme" oder auch "Das Bild als Wissensmodell". In jedem der Kapitel ist die Spannweite der erwähnten Bildmedien sehr groß. Ästhetische Hierarchien sind keine erkennbar. Schon im ersten Kapitel finden antike Seelenbilder von Verstorbenen genauso Erwähnung wie Zeitungsfotos oder TV-Bilder der Terroranschläge in New York, Museumsgemälde ebenso wie Röntgenbilder, Tattoos genauso wie Computertomografien. Auf diese Weise wird gleich zu Beginn ein möglichst offener Bildbegriff präsentiert.
Gegen einen offenen Bildbegriff ist im Prinzip nichts einzuwenden, kann er doch durchaus einer Erweiterung des kunstwissenschaftlichen Horizontes dienen. So geht es etwa in dem Kapitel "Das Bild als Wissensmodell" um auf den ersten Blick so abgelegene Bilder wie Diagramme, Karten und andere Modellbilder. Bei genauerem Hinsehen erweisen sie sich aber als aufschlussreich auch für näherliegende Bildmedien. So vermag etwa der hier thematisierte historische Plan der Londoner U-Bahn Assoziationen an Einstellungen aus alten Kriminalfilmen zu wecken. Sind derartige, vermeintlich randständige Bildgattungen aber auch über Assoziationen zu den eigenen Forschungsgegenständen hinaus für die Kunstwissenschaft von Relevanz? Ja, meint der Autor unter Berücksichtigung aktueller Forschungsliteratur. Denn mit Bezug etwa auf Modellbilder der Evolution bestehe beispielsweise die Gefahr von Fehldeutungen. Die Kunstwissenschaft könne mit ihren Methoden der Bildanalyse helfen: "Ein scheinbar rein biologisches Thema wie die Evolution ist daher ebenso gut auch ein Problem der Bild- oder Kunstgeschichte." (173) Auf diese Weise werden Themenfelder und Fragestellungen in den Blick gerückt, die in der Kunstwissenschaft bislang wenig Beachtung gefunden haben.
So wünschenswert eine solche Öffnung des Spektrums ist, so fragwürdig ist allerdings die Systematik, mit der die neu gewonnene Stofffülle geordnet wird. Zum einen folgen die Kapitelüberschriften keinesfalls immer einer einsichtigen Logik. Auch setzen sie den Leser nicht von sich aus stets auf den richtigen Suchpfad. Zum anderen sind die Erläuterungen im Detail oft haarsträubend ungenau. Zum Beispiel der neuralgische Punkt der "Begrifflichkeiten" des Bildes: Statt eine bildliche Konzeption nach der anderen darzulegen, wird punktuell verfahren und in der Chronologie vor- und zurückgesprungen. Die Folge: Namen wie Leon Battista Alberti, die Gebrüder Grimm oder Platon verschwimmen wie in einem Aquarell ineinander. Ähnlich verhält es sich mit den größeren historischen Zusammenhängen, denen diese Namen entnommen sind. Sie werden unter dem sprunghaften Regime der Stichworte beinahe bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Bei aller Kritik an den gewählten Methoden (Enthierarchisierung, Dekontextualisierung) besteht das große Verdienst des Buches doch in seiner entschiedenen Infragestellung eines allzu eng gefassten Bildbegriffs. Im Anschluss an jedes Kapitel gibt es darüber hinaus vom Autor kommentierte Lektüreempfehlungen und von ihm formulierte Fragen, die dazu anregen, über das Gelesene nachzudenken. Außerdem bietet das Buch am Ende einen "Serviceteil". Dieser Teil enthält neben dem Literaturverzeichnis eine umfangreiche bildwissenschaftliche Bibliografie inklusive Angaben zu digitalen Datenbanken sowie ein Sachregister und ein Glossar.
Insgesamt betrachtet zeichnet sich das vorliegende Buch vor allem durch seine vorurteilsfreie Einbeziehung aller Arten technisch generierter Bilder aus. In diesem Punkt unterscheidet es sich von bildwissenschaftlichen Publikationen, die der Leser bislang auf dem Markt finden konnte. Wer sich neben den herkömmlichen visuellen Medien für das überraschend breite Spektrum des technischen Bildes und dessen theoretische Reflexion interessiert, wird hier garantiert fündig.
Jennifer Bleek