Nils Ole Oermann: Albert Schweitzer, 1875-1965. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2009, 367 S., ISBN 978-3-406-59127-3, EUR 24,90
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Nils Ole Oermann hat eine neue Albert- Schweitzer-Biographie vorgelegt, die als ein eigenständiger Wurf gelten darf. Jeglicher Hagiographie abhold, die gerade in älteren biographischen Darstellungen begegnet, weiß sich der Autor im Sinne von Leopold von Ranke dem Ideal der historischen Wahrhaftigkeit verpflichtet.
Die Notwendigkeit einer neuen Schweitzer-Biographie begründet Oermann einmal mit der Publikation der "Werke aus dem Nachlaß". Als weiteren Grund führt er an, dass "bisherige Biographen und Hagiographen" Schweitzers Autobiographie Aus meinem Leben und Denken von 1931 unkritisch gefolgt seien. Darüber hinaus will Oermann "dem ganzen Albert Schweitzer gerecht werden: dem Theologen und dem Kulturphilosophen, dem Musiker und dem Mediziner, dem Ehemann und dem Leiter eines Tropenkrankenhauses, dem Bestseller-Autor der Afrikanischen Geschichten und populären Erzählungen wie dem Verfasser kulturwissenschaftlicher Grundlagenwerke" - im Unterschied zu Arbeiten, die nur einen Aspekt von Schweitzers Wirken thematisieren. Schließlich gilt das besondere Interesse Oermanns dem "strategisch handelnden Homo politicus Albert Schweitzer", der bisher weitgehend übersehen und dessen politischer Briefwechsel kaum ausgewertet worden sei (12).
Schweitzers Lebensweg wird in sieben Kapiteln nachgezeichnet, wobei ein eigenes Kapitel über seine Kulturphilosophie eingeschaltet wird. Nicht zufällig ist das Kapitel "Das Gespenst bannen. Schweitzer im Kalten Krieg (1945-1957)" am umfangreichsten.
Schweitzers Entschluss, im heutigen Gabun als Tropenarzt zu wirken, wird in den meisten Schweitzer-Biographien mit dem Opfer der eigenen akademischen Karriere gleichgesetzt. Dieser Beurteilung widerspricht Oermann zu Recht, hätten doch die Rezensionen seiner Habilitationsschrift und der auch nach der Habilitation in der protestantisch-theologischen Fakultät in Straßburg aufgrund seiner theologischen Position anhaltende Konflikt Schweitzer erkennen lassen, dass eine Berufung auf einen theologischen Lehrstuhl nicht zu erwarten sei (69 f.). Ganz anders stellte sich die Lage 1930 dar, nachdem sein Werk Die Mystik des Apostels Paulus erschienen war und eine positive Aufnahme in der theologischen Fachwelt erfuhr. Noch im gleichen Jahr bot ihm die theologische Fakultät der Universität Leipzig eine Professur für Neues Testament an.
Im Unterschied zu vielen Hagiographen Schweitzers, auch zu dessen eigener Selbstdarstellung arbeitet Oermann heraus, dass die Entscheidung, Arzt zu werden, nicht unmittelbar auf den Vorsatz aus dem Jahr 1896, ab dem 30. Lebensjahr das eigene Leben dem Dienst am Mitmenschen zu widmen, und auf einen Aufruf der Pariser Mission aus dem Jahr 1904 zurückgeführt werden könne. Vielmehr war diese Entscheidung "mit einem langen Prozess des inneren Ringens verbunden" (84), der von 1902 bis 1905 währte. Dass Schweitzer nicht als Missionar, sondern - nach einem kompletten Medizinstudium - als Arzt ausreiste, war seiner liberalen theologischen Position geschuldet, an der die Missionsgesellschaft Anstoß nahm (126).
Anders als Schweitzer selbst, der in seiner Autobiographie auf die Beziehung zu seiner Frau nur an einer Stelle eingeht, widmet sich der Biograph Oermann eingehend diesem Verhältnis, wobei er sich auf die 1992 veröffentlichten Briefe, die Albert Schweitzer und Helene Bresslau zwischen 1902 und 1913 einander geschrieben hatten, und Verena Mühlsteins 1998 erschienene Biographie über Helene Schweitzer-Bresslau stützen kann (105-124, 192-194, 197-199 u.ö.).
Ausführlich stellt Oermann Schweitzers Kulturphilosophie vor (148-178), die jener in Auseinandersetzung mit dem Denken Friedrich Nietzsches entwickelt habe. Für Oermann ist Schweitzers Prinzip der "Ehrfurcht vor dem Leben" "Ausdruck einer stoischen Naturphilosophie als praktischer Philosophie im Sinne Goethes" (165). Allerdings ist der laut Schweitzers Autobiographie angeblich bei einer Dampferfahrt auf dem Ogowe im September 1915 entdeckte Begriff der "Ehrfurcht vor dem Leben" - dies sei gegenüber Oermann gesagt - wohl eher nicht mit Goethe in Verbindung zu bringen. Diesen Begriff verwendete Schweitzer bereits dreieinhalb Jahre zuvor in seiner Vorlesung "Die Ergebnisse der historisch-kritischen Theologie und der Naturwissenschaft für die Wertung der Religion". Dabei könnte er den Begriff unbewusst von Magnus Schwantje (1877-1959) übernommen haben, welcher ihn ab 1902 bei seinem Engagement für einen "radikalen Tierschutz" verwendet hat.
In seiner Biographie verschweigt Oermann nicht die Schattenseiten des "Grand Docteur", wenn er aus unterschiedlicher Perspektive dessen Verhältnis zu den Schwarzen beleuchtet (201-212). Dabei zieht er folgendes Resümee: "Es überrascht nicht, dass gerade von vielen Afrikanern spätestens mit der Dekolonialisierungsbewegung der fünfziger Jahre nicht nur Bewunderung, sondern auch harsche Kritik an Schweitzers patriarchalischem Führungsstil geäußert wurde. [...] Schweitzer unternahm keine Anstrengungen, schwarze Ärzte auszubilden oder Lambarene in die Hände von Schwarzen zu geben. Er beutete aber im Gegensatz zu den meisten Siedlern die Afrikaner nicht aus, sondern heilte sie. Das tat er im Bewusstsein der Schuld, die das koloniale Europa über Jahrhunderte auf sich geladen hatte." (211 f.)
Was die Schweitzer-Forschung betrifft, so dürfte diese am meisten von dem umfangreichsten, siebten Kapitel (228-294) profitieren. Zunächst schildert Oermann hier, wie Schweitzer nach Kriegsende in den USA zum "Greatest Man in the World", zum Medienstar avancierte, wogegen dieser sich im Blick auf die finanzielle Sicherung seines Spitals zumindest nicht gewehrt habe (234). Ausführlich wird Schweitzers Engagement für die Abschaffung der Atomwaffen gewürdigt (253-271), wobei insbesondere seine Kontakte zu Albert Einstein, Dag Hammarskjöld, Linus Pauling, Theodor Heuss und John F. Kennedy zur Sprache kommen. Höchst problematisch waren dagegen Schweitzers Kontakte zu Walter Ulbricht und Gerald Götting (271-287). Schweitzer ließ sich von der DDR vereinnahmen, ohne dagegen zu opponieren (287): Nichtsdestotrotz lautet Oermanns Fazit über den "Homo politicus" Albert Schweitzer: "Schweitzer ist seiner Ethik entsprechend Weltbürger - nicht im Sinne eines Bürokraten der Vereinigten Nationen, sondern einer, der weiß dass Ländergrenzen wenig an der ethischen Verantwortung des Individuums ändern." (294)
Der Biograph Nils Ole Oermann hat Albert Schweitzer von seinem Heiligen-Sockel heruntergeholt, auf den er bis zum heutigen Tag immer wieder gestellt wird, indem er als Historiker klar zwischen Mythos und geschichtlicher Wirklichkeit unterscheidet. So kann er etwa Schweitzer mit guten Gründen als einen "Meister der Selbstinszenierung" (307) bezeichnen. Der von Oermann "entmythologisierte" Albert Schweitzer soll von uns nicht bewundert werden, aber er fordert uns heraus, uns mit seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben auseinanderzusetzen, unser Denken und Handeln von ihr inspirieren und bestimmen zu lassen. Oermann hat eine flüssig geschriebene und dem Stand der Forschung Rechnung tragende, für längere Zeit sicher maßgebliche Biographie über Albert Schweitzer vorgelegt.
Dem Haupttext ist noch ein Anhang beigegeben, der Zeittafel (315-321), Anmerkungen (322-352), Literatur (352-361), Bildnachweis (362) und Personenregister (363-367) umfasst. Hinzu kommen 49 Abbildungen von sehr guter Qualität.
Werner Zager