Katharina Weigand / Jörg Zedler (Hgg.): Montgelas zwischen Wissenschaft und Politik. Krisendiagnostik, Modernisierungsbedarf und Reformpolitik in der Ära Montgelas und am Beginn der 21. Jahrhunderts (= Münchner Beiträge zur Geschichtswissenschaft; Bd. 4), München: Utz Verlag 2009, 188 S., ISBN 978-3-8316-0897-3, EUR 39,00
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Der Untertitel des Buches ist identisch mit dem des Kolloquiums. Die Professoren Körner (Universität München) und Stauber (jetzt Universität Klagenfurt) haben das Konzept entworfen und 2005 in die Münchener Residenz geladen. Der äußere Anlass war das jüngst eingeweihte Denkmal am Münchener Promenadeplatz für Montgelas, den nahezu "allmächtigen" und "genialen Staatsmann", den "Schöpfer des modernen Bayerns" (162), der jedoch wegen seiner antikirchlichen Politik im katholischen Bayern umstritten war. Das Kolloquium verfolgte recht ambitionierte Absichten. Es ging um Geschichte, nicht l'art pour l'art, sondern mit explizitem Bezug zur Gegenwart: "Auf die Vorträge von Historikern, bei denen einzelne Aspekte der bayerischen Reformpolitik um 1800 im Mittelpunkt zu stehen hatten, sollten jeweils Bemerkungen und Statements von Politikern, Spitzenbeamten und Journalisten folgen, deren Aufgabe es war, den Zuständen und Ereignissen von damals die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation gegenüberzustellen." (10) Solche Vorhaben sind ebenso wünschenswert wie selten: Austausch von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, recht geeignet der viel beklagten Versäulung der Bundesrepublik entgegenzuwirken. Dass die Veranstalter ein die Gesellschaftssegmente übergreifendes Dialogbedürfnis getroffen haben, davon zeugte nicht zuletzt auch die überraschend große Teilnehmerzahl. Möge dieses Kolloquium ein Ansporn für ähnliche Vorhaben sein!
Montgelas 2005! Die napoleonische Umbruchszeit und die heutige. Eine Gegenüberstellung sollte es werden, ein Vergleich, bei dem "mehr die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten" (10) damals und heute deutlich werden, wie die Herausgeber vorsichtig einschränkend einräumen. Sie waren gut beraten, das Anliegen des Bandes mit so viel Bedacht zu formulieren. Denn so richtige Vergleiche gibt es nur in zwei Beiträgen, nämlich dem Beitrag von Karl Fürst zu Schwarzenberg, des Außenministers der Tschechischen Republik, der überraschende Parallelen zwischen den napoleonischen Umbruchszeiten und der "Revolution, Reform und Modernisierung in Osteuropa nach 1989" zieht (z.B. bis hin zur Korruption, die in solchen Zeiten wohl immer grassiert). Dann stellt nur noch Stefan Fisch in seinem Beitrag "Montgelas' Reformen und die aktuelle Reformagenda in Bayern, Deutschland und Europa" einen historisch-politischen Vergleich an, und zwar zu dem Problemkreis Zentralisierung - Dezentralisierung, damals und heute.
In allen anderen Beiträgen wird "damals" und "heute" allenfalls nur äußerlich aufeinander bezogen, manchmal zu wortwörtlich nur aufeinander folgend "gegenübergestellt". Die Beiträge unterscheiden sich erheblich von einander, was nicht als Kritik aufzufassen ist. Denn von der Konzeption war die Tagung angelegt als ein Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und zum Dialog gehört zu allererst zuhören. Das Spektrum der Beiträge reicht demnach von forschungsnahen Aufsätzen über wissenschaftliche Darstellungen bis hin zu "Statements", um eine Kennzeichnung der Einleitung aufzugreifen.
Unter letztere Bezeichnung fielen dann der Beitrag "Anmerkungen zu Reformstrategien der Gegenwart" des ehemaligen Finanzministers der Bundesrepublik Theo Waigel, ferner der Beitrag "Krisendiagnose und Reformbedarf heute" des Regierungspräsidenten von Oberbayern a.D. Werner-Hans Böhm sowie der Beitrag von Edeltraut Böhm-Amtmann, Leiterin der Vertretung des Freistaates Bayern a.D. bei der EU. Unter forschungsnah kann man den Aufsatz von Karl Otmar von Aretin einordnen, der das Personal der Reformen in der Ära Montgelas untersucht, dazu einen Überblick über den bisherigen Forschungstand gibt und die vielen Desiderata zum Teil mit eigenen Archivrecherchen ausfüllt.
Winfried Schulze stellt in seinem Beitrag "Reform und Krise im Revolutionszeitalter" das Bewusstsein der Krise vor 1789 heraus und die in die Zukunft weisenden Antizipationen der Revolution. Der zwischen den Zeilen sich so anbietende Vergleich zur Gegenwart wird - klugerweise - dem Leser überlassen. Ihm schließen sich Hermann Rumschöttels sehr allgemeine Grundlinien von "Revolution, Reform und Modernisierung im Napoleonischen Europa" an.
Unter die Rubrik zusammenfassende wissenschaftliche Überlegungen kann man den Aufsatz von Bernd Wunder "Die bayerische Reformpolitik am Beginn des 19. Jahrhunderts im nationalen und internationalen Vergleich" einreihen, der u.a. in die These einmündet, dass "die Reformen umfassender als die sie auslösende Krise" (112) waren. In die gleiche Rubrik fällt auch der Beitrag von Walter Demel "Staatsabsolutismus und Verstaatlichung: Bayerische Reformstrategien um 1800". Demel untersucht hier, inwieweit die modernen Definitionsmerkmale von Staat auf die Reformstrategien von Montgelas anwendbar sind. Definitionsmerkmale sind geschlossenes Staatsgebiet, eindeutiges Staatsvolk, nach innen und außen souveräne Regierungsgewalt. Sie wurden bekanntlich in der Gegenüberstellung zu den "Failed States" der Gegenwart entwickelt. Der Reiz des Aufsatzes liegt darin, dass ein gegenwärtig aktuelles Kategoriensystem beziehungsreich fruchtbar gemacht wird für die Staatsreformen in der napoleonischen Umbruchszeit.
Die Herausgeberin Katharina Weigand hat in ihrem Beitrag "Vom Sturz zum Denkmal" die sehr kontroverse Rezeption Montgelas' in der Geschichtswissenschaft herausgearbeitet, die von überschwänglichem Lob gegenüber dem Schöpfer des modernen Bayern bis hin zur Verdammung wegen seiner antikirchlichen Politik reicht und obendrein noch lange Zeit überlagert war von einer borussozentrischen Sichtweise der deutschen Geschichte. Der Redakteur des Bayerischen Rundfunks Rainer Volk schließt den Band ab mit einem Artikel "Politiker und ihr Selbstverständnis heute", der irgendwo angesiedelt ist zwischen geisteswissenschaftlichem Essay und Satire, also durchaus etwas zur Kenntniserweiterung, aber auch zum Schmunzeln.
Etwas ganz anderes und vielleicht war es nur Zufall: Der jüngste Autor ist Jahrgang 1961 (Rainer Volk), alle anderen sind älter, die Hälfte der Beitragenden jenseits der Pensionsgrenze. Nur der Mitherausgeber Jörg Zedler ist Jahrgang 1974 (und hat keinen eigenen Beitrag geschrieben.) Weit entfernt einer Altersdiskriminierung das Wort zu reden: Aber jüngere Menschen sind weder aufseiten der Wissenschaft noch auf der Seite der Gesellschaft vertreten, und das in einem Band, der auch Modernisierungsbedarf im 21. Jahrhundert zum Thema hat.
Fazit: Die Gegenüberstellung zwischen Krisendiagnostik, Modernisierungsbedarf und Reformpolitik in der Ära Montgelas und am Beginn des 19. Jahrhunderts hätte an einigen Stellen vielleicht beziehungsreicher ausfallen können. Aber das Experiment eines Dialoges zwischen Wissenschaft und Politik über ein Thema der Vergangenheit in der Gegenüberstellung mit heute wurde gewagt. Es kommt einem Bedürfnis der Gegenwart entgegen.
Manfred Hanisch