Roger Chickering: Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914-1918. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Rudolf Renz und Karl Nicolai, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009, 606 S., ISBN 978-3-506-76542-0, EUR 49,90
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Dorothee Platz: We had been the women's army - Women's Army Auxiliary Corps (WAAC). Kriegserfahrungen von Frauen im Hilfsdienst der britischen Armee des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005
Regina Frisch (Hg.): Kochen im Ersten Weltkrieg. Drei Kriegskochbücher aus Bayern, Würzburg: Königshausen & Neumann 2018
Ian F. W. Beckett: The Making of the First World War, New Haven / London: Yale University Press 2012
Roger Chickering: Imperial Germany and the Great War, 1914-1918, Second Edition, Cambridge: Cambridge University Press 2004
Roger Chickering / Stig Förster (eds.): War in an Age of Revolution, 1775-1815, Cambridge: Cambridge University Press 2010
Roger Chickering / Stig Förster / Bernd Greiner (eds.): A World at Total War. Global Conflict and the Politics of Destruction, 19371945, Cambridge: Cambridge University Press 2005
Die umfangreiche - mehr als 600 Seiten starke - Arbeit, die Roger Chickering vorlegt, ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich und atemberaubend. Chickering hat - so zumindest der Eindruck nach der Lektüre - alle Informationen, die es in Archiven, aus der Presse, aus Briefen, Tagebüchern und Zeitzeugengesprächen herauszuholen gibt, gefunden und aufbereitet. Kein Artikel blieb ungelesen, keine Akte unentdeckt, kein Bericht ungehört, jeder Stein wurde umgedreht. Chickering hat den Ersten Weltkrieg in vielen Facetten nachgezeichnet und die Auswirkungen der "Urkatastrophe" auf eine der "lieblichsten" deutschen Städte bis auf die Ebene der Haustiere, der Bienen und der Pilze nachgezeichnet. Das hört sich nur auf den ersten Blick komisch an - dazu weiter unten mehr.
Der Verfasser hat sich über viele Jahre intensiv mit den Themenfeldern Weltkrieg und totaler Krieg sowie mit den Überlegungen zu einer Totalgeschichte (wie sie etwa Karl Lamprecht anstrebte) auseinandergesetzt. In seinem Buch versucht er, diese drei Stränge miteinander zu verbinden: Er wagt das Experiment einer - räumlich und zeitlich - klar begrenzten Totalgeschichte und präsentiert eine Fülle von Informationen aus dem Leben der badischen Stadt in den Jahren 1914 bis 1918. Die entdeckten Details, die sich mitunter dicht an dicht auf den Seiten drängen, belegen, dass der große Krieg tatsächlich alle Bereiche des Lebens beeinflusst und verändert hat. Die Lektüre ist über weite Strecken deprimierend, denn die Allgegenwart und Unausweichlichkeit des Krieges bietet nicht einmal dem Leser Entlastung. Dabei verzichtet der Verfasser darauf, unnötig zu dramatisieren. Im Stil einer nüchternen Dokumentation interpretiert er, doch seine umfangreiche Arbeit lässt sich wie eine Datenbank nutzen. Fast 80 Tabellen und Grafiken, die sich im Text, aber auch in einem Anhang befinden, ermöglichen den Lesern eigene Analysen und Schlussfolgerungen.
Dass seine Arbeit trotz der Informationsfülle noch lesbar ist, gelingt nur, weil Roger Chickering zwar (fast?) alles, was sich zur Freiburg aus den ihm zur Verfügung stehenden Quellen noch erzählen lässt, vorlegt, es aber dennoch erkennbar strukturiert. In 13 Kapiteln wendet er sich der Wirtschaft und der Lebensmittelversorgung zu, er behandelt die Luftangriffe auf die Stadt (97ff.) und die Konfrontation der Freiburger mit Verwundung und Tod. In dem ersten Kapitel skizziert er Geografie, Wirtschaft und Bevölkerung Freiburgs vor dem Beginn des Krieges. Weitere Kapitel widmen sich dem Verhältnis der verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Gruppen zueinander oder den Sinnen. Nicht jedes Kapitel trägt eine Überschrift, unter der sich der Leser sofort vorstellen kann, was ihn erwartet. Aber so verhält es sich mit dem gesamten Buch: Roger Chickering überrascht seine Leser mit einer Fülle von Ereignissen, Entwicklungslinien, Ursachen- und Wirkungsgeflechten, dass dieser glauben muss, er habe sich bislang allerhöchstens oberflächlich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt. Am Ende der Lektüre weiß er einiges mehr, ist sich zugleich aber bewusst, wie vieles an Komplexität aus den herkömmlichen Darstellungen herausgehalten wird. Und vor diesem Hintergrund bekommen die von Chickering nachgezeichneten Kriegsfolgen für die Haustiere in Freiburg (deren Zahl sich drastisch reduzierte, weil sie als zusätzliche Esser in die öffentliche Kritik gerieten bzw. vermutlich vor dem Hintergrund der immer schlechter werdenden Versorgungslage in Kochtöpfen landeten, 178ff.) - eine ganz andere als eine skurrile und anekdotische Bedeutung: Mit seiner gezähmten Totalgeschichte belegt Chickering eindrucksvoll, dass der Erste Weltkrieg keinen Bereich des Lebens unberührt gelassen hat. Wegen des Kupfersulfatmangels konnte nicht gegen Pilzerkrankungen vorgegangen werden, sodass im letzten Kriegsjahr die Traubenernte ruiniert wurde. Auch die Kartoffelfäule 1916 oder die Kohlsorten befallenden Pilze im Sommer 1918 waren vergleichbare Folgen des Mangels durch den Krieg, die seine Auswirkungen gleichzeitig weiter verschärften (332ff.). Um Dichtungsringe aus Haaren herstellen zu können, schnitten sich schon kleine Mädchen die Haare zum Pagenkopf - und wurden zu opferbereiten Kriegsheldinnen stilisiert (452).
Chickering zeichnet ein farbiges Panorama des Ersten Weltkrieges in Freiburg mit vielen neuen und ungewöhnlichen Einblicken. Seine Arbeit unterscheidet sich deutlich von den anderen (zum Teil ebenfalls hervorragenden) Regional- bzw. Lokalgeschichten im Umfang, in der Fülle der Informationen und der Bandbreite der von ihm untersuchten Bereiche. Zugleich beantwortet er eine Frage, die er gemeinsam mit dem in Bern lehrenden Historiker Stig Förster und anderen seit vielen Jahren diskutiert: Was ist der totale Krieg? Jedoch liefert er die Antwort nicht in Form eines Kriterienkataloges, sondern indem er sich darauf einlässt, zu erforschen, welche Bereiche der Krieg in Freiburg beeinflusste. Und es bleibt kein Feld unberührt: Weder das Privatleben der Menschen noch ihre Sinne, weder die Sprache noch die Werte und politischen Orientierungen, Vermögen und Gesundheit schon gar nicht.
Das Experiment einer Totalgeschichte ist aus Sicht der Rezensentin geglückt. Zunächst einmal ist es Roger Chickering gelungen, sie zu vollenden, er ist durch eine kluge Begrenzung Herr der Informationsflut geblieben. Er hat einen Weg gefunden, die Totalität seines Gegenstandes in lesbare Kapitel zu fassen. Durch vorübergehende Fokussierung auf ein Thema hat der Verfasser Einheiten geschaffen, denen der Leser folgen kann. Die Einteilung trägt der Tatsache Rechnung, dass sich nicht alle seine Themen parallel entwickelt haben oder erzählen lassen. Gleichzeitig hebt die Konzentration auf die Lokalgeschichte hervor, dass viele Faktoren in Freiburg besonders, wenn nicht einzigartig waren: Freiburg war eine wohlhabende Stadt, die viele Touristen beherbergte. Mit Kriegsbeginn konnte sie mit der großen Zahl an Soldaten (die noch einmal um 50 Prozent die der Reisenden aus den Vorkriegsjahren überstieg) souverän umgehen, schnell stellten sich Industrie, Handwerk und Dienstleister auf die Wünsche des Militärs und der Soldaten um. Die Nähe zur Grenze führte in Freiburg zu einer unmittelbaren Erfahrung der Bürger, in die lebensbedrohenden Kriegshandlungen einbezogen zu werden. Anders als in vielen anderen deutschen Städten war hier die Schlacht allein durch den von der Front dringenden Lärm wesentlich präsenter als andernorts. Der Autor macht deutlich, dass eine Totalgeschichte nur klar eingeschränkt funktioniert. Chickering sät bei seinen Lesern tiefe Skepsis gegenüber dem, was schnell und leichtfertig als "Geschichte" angeboten wird.
Und last but not least entwickelt er eine zugleich reiche und erschöpfende Weltkriegsgeschichte, die den Leser motiviert, sich sofort der Nachkriegsgeschichte widmen zu wollen. Denn eines ist ebenfalls klar nach der 600-seitigen Lektüre: Das Trauma des Ersten Weltkrieges, besonders in einem Land, das zu den Verlierern gehörte, lässt sich nicht nur mit fehlenden demokratischen Strukturen oder mangelnder Einsicht in die eigene Schuld und Verantwortung behandeln, sondern muss alle Bereiche, die der Krieg beeinflusst hat, auch nach 1919 untersuchen.
Susanne Brandt