Rezension über:

Yannis Hamilakis: The Nation and its Ruins. Antiquity, Archaeology, and National Imagination in Greece (= Classical Presences), Oxford: Oxford University Press 2007, xxii + 352 S., ISBN 978-0-19-923038-9, GBP 63,00
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Rezension von:
Constanze Güthenke
Department of Classics, Princeton University
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Constanze Güthenke: Rezension von: Yannis Hamilakis: The Nation and its Ruins. Antiquity, Archaeology, and National Imagination in Greece, Oxford: Oxford University Press 2007, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 3 [15.03.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/03/15170.html


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Yannis Hamilakis: The Nation and its Ruins

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Yannis Hamilakis, ein in Griechenland und Großbritannien ausgebildeter und an der University of Southampton lehrender Archäologe, beschäftigt sich seit einigen Jahren mit Fragen der Interpretationsgeschichte seines Faches. [1] In seinem neuen Buch unternimmt er es, anhand des Beispiels Griechenlands das "soziale Leben", die Funktion und den Effekt archäologischer Materialien im modernen Nationalstaat aufzuzeigen. Die Archäologie als Disziplin sah in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts (sicherlich im englischsprachigen Raum) erst einen Wechsel von einem geistes- und kulturgeschichtlichen Ansatz hin zu einem Selbstverständnis als exakter und empirischer Wissenschaft, die dann in den 80er- und 90er-Jahren einem neuen Impuls hin zu einer "post-prozessualen" Archäologie mit Fokus auf kritischer Interpretation des Materials und der eigenen Konstitution des Materials folgte. Gerade in diesem Zusammenhang wurde auch das Thema von der Verflechtung der Archäologie mit dem Nationalstaat und seinen Strategien zentral.

Hamilakis ist ein Archäologe, der akademisch in diesem neuen Paradigma aufgewachsen und gut bewandert ist, der aber zugleich das Verhältnis von Nationalstaat und Archäologie um einen weiteren Kreis von kritischen, strukturellen Fragen bereichert. Für ihn ist die Gleichung, in der das archäologische Material, als quasi-Text, durch nationale Ideologien missinterpretiert oder doch tendenziös gelesen wird, zu einfach. In der Annahme, dass das materielle Korpus vergangener Zeit überhaupt erst durch den archäologischen Ansatz konstituiert wird, konzentriert sich Hamilakis auf die Art und Weise, in der die nationale Imagination und das archäologische Material wechselseitig auf sich einwirken - ein Ansatz, der sowohl den materiellen als auch den ideologischen Teil weniger vorherbestimmbar oder von bestimmten Gruppen einseitig dominiert darstellt. Die archäologische Imagination ist damit ein fundamentaler, lebendiger, vielseitiger und immer dem Widerspruch unterworfener Teil der Moderne, und Hamilakis rückt seine Arbeit bewusst in die Nähe der anthropologischen Feldstudie, die ohne Anspruch auf reine Objektivität die Herstellung des archäologischen Ortes, wörtlich wie figurativ, nachvollziehen will.

Die zwei Kapitel, die der im letzten Paragrafen zusammengefassten Einleitung folgen, bieten einen weitgehend historischen Überblick über die oft widersprüchliche aber konstitutive Rolle der antiken Vergangenheit in der Selbstdarstellung des griechischen Nationalstaats seit dem späten achtzehnten Jahrhundert (Kapitel 3, "From Western to Indigenous Hellenism: Antiquity, Archaeology, and the Invention of Modern Greece"), und über die Struktur und Geschichte der archäologischen Institutionen in Griechenland (Kapitel 2, "The 'Soldiers', the 'Priests', and the 'Hospitals for Contagious Diseases': the Producers of Archaeological Matter-realities"). Vor allem letzteres Kapitel sei als Lektüre jedem in Griechenland arbeitenden Archäologen ans Herz gelegt, da Hamilakis nicht nur eine gute Einführung in eine außerordentlich komplexe Verwaltungsstruktur liefert, sondern dazu noch den Rahmen der gegenseitigen Urteile und Vorurteile zwischen griechischen und ausländischen Institutionen klug aufzieht.

Die reiche Bildlichkeit, die sich in der Kapitelüberschrift zeigt, ist dabei Teil des Inhalts. Die 'Soldaten' und 'Priester' beziehen sich auf die Selbstdarstellung des griechischen Archäologen sowohl als Schutz der nationalen materiellen Vergangenheit als auch als Vertreter einer quasi-sakralen Haltung gegenüber derselben (nicht zuletzt dank der in Griechenland seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts stark gewordenen Kulturgeschichte einer kontinuierlichen Tradition von Antike über byzantinisches Mittelalter bis hin zum modernen Staat). Hamilakis argumentiert, dass solche Bildbereiche genau der Gegenstand eines anthropologisch motivierten und interpretierenden Blickes sein sollten, und in den folgenden vier Kapiteln liefert er dementsprechend eine Reihe von historischen Fallstudien, die sich bemühen, die politischen, die populären und die wissenschaftlichen Stränge des archäologischen Lebens in Griechenland zu fassen. In seinem Kapitel über die prominenten Ausgrabungen der hellenistisch-makedonischen Elite-Gräber in Vergina in Nordgriechenland ("The Archaeologist as Shaman: the Sensory National Archaeology of Manolis Andronikos") untersucht Hamilakis die wissenschaftlichen und die journalistischen Publikationen des Grabungsdirektors Manolis Andronikos im Hinblick auf dessen Sprache der Verlebendigung, des inspirierten Traums und der Wiederauferstehung.

Das fünfte Kapitel, "Spartan Visions: Antiquity and the Metaxas Dictatorship" behandelt eine der Perioden der absichtlichen ideologischen Inanspruchnahme der Antike mit allen Mitteln unter der rechtsextremen Regierung des Generals Metaxas in den 30er-Jahren. Metaxas' Regierung, die sich auf die Forderung nach einer "dritten Hellenischen Zivilisation" stützte, bewunderte das antike Sparta. Hamilakis zeigt reichhaltiges Material über die fotografische, choreografische und museale Einbindung antiker Monumente in Staatsauftritte, öffentliches Leben, wissenschaftliches Arbeiten und kulturelle Veranstaltungen. Das sechste Kapitel, "The Other Parthenon: Antiquity and Cultural Memory at the Concentration Camp" folgt mit einer Fallstudie der vor der Küste Attikas liegenden Insel Makronissos, die in den Nachkriegsjahren, in denen Griechenland einen Bürgerkrieg durchlitt, als Gefängnisinsel und als Lager für politische Umerziehung vermutlicher oder tatsächlicher Kommunisten diente. Ein gesteuerter praktischer Umgang mit der Antike fand sich dort in Form dramatischer Aufführungen antiker Stücke und der Rekonstruktion antiker Denkmäler, unter der Vorgabe, dass die Wertschätzung der griechischen Antike nicht mit der Wertschätzung ausländischer, fremder politischer Ideologien zu vereinbaren sei.

Das siebte Kapitel, "Nostalgia for the Whole: the Parthenon (or Elgin) Marbles", zeigt den Werdegang der nationalen Kampagne zur Rückführung der im Londoner British Museum befindlichen Parthenonskulpturen, eine Kampagne die vornehmlich seit den 80er-Jahren das Herzstück einer archäologischen Außen- und Kulturpolitik bildet. Hamilakis formuliert den Umriss einer strukturellen Nostalgie für ein verlorenes Ganzes, eine Nostalgie, die sich in kulturellen Erwartungen über ein weites Spektrum äußert. Der Epilog "The Nation in Ruins? Conclusions", zieht die Bilanz eines modernen Griechenlands zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in dem die archäologische Imagination vielseitig, ambivalent und zwischen dem Lokalen und dem Globalen sich stetig neu konstituierend wirkt. Sein Fazit ist die Aufforderung, Griechenland nicht als Einzelfall, sondern als Fallstudie eines komplexen Gebildes zu sehen, in dem Archäologie und Nationalstaat beide als Phänomene der Moderne stehen, die sich nicht nur in der geografischen und ideologischen Ferne, sondern ebenso in der räumlichen Gegenwart, vor der Haustüre jeder modernen Archäologie befinden.


Anmerkung:

[1] Lediglich zum Beispiel: Yannis Hamilakis / Nicoletta Momigliano (eds.): Archaeology and European Modernity. Producing and Consuming the 'Minoans' (= Creta Antica, 7), Padova 2006; Keith S. Brown / Yannis Hamilakis (eds.): The Usable Past. Greek Metahistories, Lanham and Oxford 2003. Hamilakis' Schriftenverzeichnis ist sehr umfangreich.

Constanze Güthenke