Inga Brandes / Katrin Marx-Jaskulski (Hgg.): Armenfürsorge und Wohltätigkeit - Poor Relief and Charity. Ländliche Gesellschaften in Europa 1850-1930 - Rural Societies in Europe 1850-1930 (= Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart; Bd. 11), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2008, 316 S., ISBN 978-3-631-58425-5, EUR 49,80
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Der vorliegende Sammelband vereint die Ergebnisse einer im Oktober 2006 in Trier veranstalteten internationalen Tagung, die, so die Herausgeberinnen Inga Brandes und Katrin Marx-Jaskulski, auf europäischer Ebene vergleichend "über die Geschichte des Verhältnisses zwischen kommunaler Armenfürsorge, privater Wohltätigkeit und sozialem Wandel in ländlichen Gesellschaften" (19) diskutierte. Sowohl die Tagung als auch die Publikation stehen im Kontext des Teilforschungsprojekts "Armut im ländlichen Raum im Spannungsfeld zwischen staatlicher Wohlfahrtspolitik, humanitär-religiöser Philantrophie und Selbsthilfe im industriellen Zeitalter" des DFG-Sonderforschungsbereichs "Fremdheit und Armut. Wandel von Konklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart" an der Universität Trier.
In elf Kapiteln nähern sich die Autoren aus verschiedenen Perspektiven der Problematik von Armut in der ländlichen Gesellschaft zehn europäischer Territorien des 19. Jahrhunderts. Den gemeinsamen Fokus bietet dabei die institutionelle private und öffentliche Armenfürsorge und Wohltätigkeit. Beide Begriffe werden teilweise, analog zur zeitgenössischen Verwendung, synonym verwendet, teilweise wird jedoch auch versucht, eine die Begriffe unterscheidende Definition zu formulieren (Mel Cousins: Charity, Philantrophy and Poverty in Ireland, 1850-1914 und Stijn Van de Perre: Public Charity and Private Assistance in Nineteenth-Century Belgium).
Wie Brandes und Marx-Jaskulski in ihrer gelungenen Einführung anführen, existierten bisher zu Armut, Fürsorge, staatlicher Armenpolitik, privater Wohltätigkeit und sozialem Wandel in den europäischen ländlichen Gesellschaften als Gesamtthemenkomplex nur wenige historische Studien. Vielmehr wurden in der Vergangenheit hauptsächlich Teilaspekte bearbeitet und diese nicht in den erforderlichen Gesamtkontext eingeordnet und zueinander in Beziehung gesetzt. Als Hauptanspruch formulieren die Herausgeber daher, zur Schließung dieser Forschungslücke mittels neuer Fallstudien beizutragen. Dabei soll der Versuch unternommen werden, die Geschichte der Armenfürsorge und Wohltätigkeit nicht ausschließlich aus institutioneller Perspektive zu rekonstruieren, sondern anhand von Selbstzeugnissen der bedürftigen Bevölkerungsgruppen die Lebenswirklichkeit von Armen in der ländlichen Gesellschaft zu dieser Epoche nachzuzeichnen. Letzteres, so gestehen die Herausgeber ein, sei jedoch aufgrund der schlechten Überlieferungssituation schwer oder fast unmöglich. Die von Armut gezeichnete Bevölkerung hinterließ wie viele andere Gruppen der unteren Bevölkerungsschichten zu wenige schriftliche Zeugnisse, um ihre Lebenswirklichkeit angemessen rekonstruierbar zu machen. Dieses methodische und empirische Grunddilemma zieht sich durch den gesamten Sammelband. Die Mehrzahl der Beiträge basiert daher auf Auswertungen institutioneller Überlieferungen und dem biografischen Schrifttum wohltätiger Protagonisten. Nur der Beitrag von Juliane Hanschkow mit dem Titel "Die Kriminalisierung von Armen durch Verwaltungshandeln. Wandergewerbetreibende und Wohnungslose im Zugriff preußischer Zigeunerpolitik in Eifel und Hunsrück vor 1933" stellt in diesem Zusammenhang eine Ausnahme dar.
Aus dem gleichen Grund ist ein weiterer für die Darstellung der Realität der ländlichen Armenfürsorge und Wohltätigkeit bedeutender Bereich für die Geschichtswissenschaft kaum greifbar. Die Praxis der nachbarschaftlichen Hilfe und informell geleisteten materiellen und immateriellen Unterstützung ist empirisch nur schwer zu fassen, was schwerwiegende Konsequenzen für die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Diskussion von Armut hat. Geringe Zahlen der institutionell geförderten Armen seien so keineswegs ein Indiz dafür, dass im Stadt-Land-Vergleich Armut auf dem Lande eine geringere Rolle spielte oder gar Armut auf dem Lande proportional kein Problem darstellte.
Vielfach gibt es Berührungs- und Anknüpfungspunkte zwischen den verschiedenen Beiträgen und Fallbeispielen. So wird an mehreren Stellen auf das Verhältnis zwischen öffentlicher Armenfürsorge und privater Wohltätigkeit eingegangen. Beide Bereiche seien nicht nur "closely intervowen" (Stijn Van de Perre, 119), sondern die private Wohltätigkeit stellte gar lange Zeit ein fundamentales Element der öffentlichen Armenfürsorge dar (Thomas Köster: Der Einfluss von Industrialisierung und sozialer Gesetzgebung auf die ländliche Armenfürsorge in Westfalen (1850-1920), Norbert Franz: Private Stiftungen als tragende Säule kommunaler Armenfürsorge im 19. Jahrhundert: französische und luxemburgische Beispiele und Stijn Van de Perre). Thematisiert werden auch der Beginn der Professionalisierung des Sozial- und Krankenwesens sowie die allmähliche staatliche Durchdringung des ländlichen Raumes. Die Bedürftigen selbst wurden von der Öffentlichkeit vielfach als finanzielle Belastung wahrgenommen, welcher man sich gerne entledigen mochte. Die Frage nach der Verantwortung und Zuständigkeit für diesen oftmals mobilen Personenkreis war in zahlreichen Fällen ein Konfliktherd zwischen ländlichen und städtischen Gemeinden, nicht zuletzt aufgrund der knappen finanziellen Ressourcen und der immer größer werdenden Zahl an Bedürftigen. Einher ging dies mit einer Einteilung von Bedürftigen in "gute" und "schlechte" Arme (Norbert Franz, 232), einer Tendenz zur Kriminalisierung und Abstempelung von Wandergewerbetreibenden und Personen ohne festen Wohnsitz wie beispielsweise Bettlern und Landstreichern sowie des Versuchs von staatlicher Seite, durch Auflagen diesen als verwerflich empfundenen Lebenswandel zu unterbinden (Juliane Hanschkow). Solche Erziehungs- und Zwangsmaßnahmen waren fast immer mit Einbußen an persönlicher Freiheit verbunden, wie besonders drastisch von Mary Luddy in ihrem Beitrag "Magdalen Asylums in Ireland, 1880-1930: Welfare, Reform, Incarceration?" am Beispiel der sogenannten Magdalen Asylums in Irland aufgezeigt wird.
Armenfürsorge und Wohltätigkeit diente nicht nur in diesem Fallbeispiel als eine Art Zivilisierungs- und Disziplinierungsmaßnahme um soziale Außenseiter auf den rechten Weg zurückzuführen. Öffentliche Armenfürsorge und private Wohltätigkeit war per se nicht selbstlos, sondern hatte oftmals höchst pragmatische moralische, soziale, politische, medizinische und wirtschaftliche Gründe oder wie Stijn Van de Perre treffend formuliert: "Private assistance functioned as an instrument of maintaining power." (107) Das Engagement privater Wohltätigkeit und Armenfürsorge entsprang meist einem defensiv und restaurativ motivierten Eigeninteresse. Es diente als Instrument zur Bewahrung der bestehenden gesellschaftlich-sozialen Ordnung wie am Beispiel der Unterstützung katholischer Wohltätigkeit durch lokale Eliten in Westflandern gezeigt wird (Maarten Van Dijck / Kristien Suenens: La Belgique Charitable: Charity by Catholic Congregations in Rural West Flanders, 1830-1880), als Instrument zur Einflussnahme auf die Lokalpolitik, als Teil einer Überlebensstrategie und Neuorientierung der Aristokratie nach der Französischen Revolution (Bertrand Goujon: Re-inventing "Seignorial" Charity in Nineteenth-Century Europe: The Example of the Dukes and Princes of Arenberg ), als Instrument zur katholischen Missionierung nicht nur im protestantischen Skandinavien (Yvonne Maria Werner: Wohltätigkeit zum Zwecke der Mission. St. Josephschwestern in Skandinavien 1856-1960 und Norbert Franz) oder zur Eindämmung eines als moralisch verwerflich angesehenen Lebenswandels (Mary Luddy).
In der Frage nach der unterschiedlichen Motivation der wohltätig werdenden Protagonisten liefert dieser Sammelband interessante Ergebnisse. Damit hilft der Band die in der Einleitung postulierte Lücke zu verkleinern, aber vermag nicht, sie wirklich zu schließen. Die Vergangenheit "von oben" zu rekonstruieren bildet eines der Grunddilemmata nicht nur der Armutsforschung, sondern der Geschichtswissenschaft als solcher. Wenn die Überlieferungssituation es allerdings nicht zulässt, bleiben den Forschenden wesentliche Aspekte der Vergangenheit verborgen. Die Rekonstruktion des Geschehenen "von unten" wird daher zwangsläufig den Mut zur Lücke beweisen müssen.
Heidi Quoika