Rezension über:

Gernot Böhme (Hg.): Karl Freiherr von Bothmer: Moskauer Tagebuch 1918. Bearbeitet von Winfried Baumgart, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, XVII + 137 S., ISBN 978-3-506-76519-2, EUR 38,00
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Rezension von:
Markus Pöhlmann
Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Markus Pöhlmann: Rezension von: Gernot Böhme (Hg.): Karl Freiherr von Bothmer: Moskauer Tagebuch 1918. Bearbeitet von Winfried Baumgart, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 3 [15.03.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/03/16175.html


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Gernot Böhme (Hg.): Karl Freiherr von Bothmer: Moskauer Tagebuch 1918

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Karl Freiherr von Bothmer war vom 22. April bis 7. August 1918 als Major im Generalstab des Feldheeres zur deutschen Gesandtschaft nach Moskau kommandiert. Sein Auftrag war die Mitarbeit in den deutsch-russischen Verhandlungen über die Repatriierung der Kriegsgefangenen, die im März 1918 im Friedensvertrag von Brest-Litowsk vereinbart worden war. Dass die Oberste Heeresleitung mit Bothmer einen Eisenbahnfachmann entsandte, hatte seinen Grund darin, dass die Aufgabe der Rückführung zum überwiegenden Teil eine logistische war. Allerdings sollte der weitere Verlauf bald zeigen, dass die Verhandlung durchaus politisches Kalkül erforderte. Denn die deutsche Seite war bestrebt, die eigenen Gefangenen rasch zurückzuholen, gleichzeitig aber die russischen möglichst lange zurückzuhalten, um sie weiter in der deutschen Kriegswirtschaft einzusetzen. Bothmers Auftrag ging über die Repatriierungsfrage hinaus. Er fungierte als Auge und Ohr der Heeresleitung in der Gesandtschaft und war wohl auch nachrichtendienstlich tätig, was durch entsprechende Andeutungen im Text deutlich wird.

Der von Bothmer geschilderte Zeitraum ist von besonderem historischen Interesse, da hier die Herrschaft der Bolschewiki noch keineswegs gefestigt war. Tatsächlich sahen sich diese nicht nur äußeren Feinden gegenüber. Die deutsche Armee marschierte im März in die Ukraine ein und in Murmansk landeten Truppen der Entente. Auch im Inneren traten zahlreiche Gegner auf den Plan - Sozialrevolutionäre, Menschewiki, Separatisten, antibolschewistische Verbände der zusammengebrochenen zarischen Armee, regionale Warlords und eine tschechische Legion, von der man befürchtete, dass sie auf dem Weg nach Hause noch en route die Regierung in Moskau stürzen könne. Und weil die Lage im Sommer 1918 für die Bolschewiki prekär war, wurde sie es auch für die improvisierte deutsche Gesandtschaft. Diese wilden Monate kulminierten am 6. Juli in der von Bothmer aus eigenem Erleben geschilderten Ermordung des deutschen Gesandten, Wilhelm Graf von Mirbach-Harff, die dann den Anlass für den Abzug der Mission lieferte.

Die von Gernot Böhme herausgegebenen und von Winfried Baumgart bearbeiteten Tagebuchnotizen hatten bereits 1922 die Quellengrundlage für eine Veröffentlichung Bothmers gebildet. [1] Baumgart hat sie zudem 1966 für sein Standardwerk zur deutschen Ostpolitik von 1918 verwendet. [2]

In Karl von Bothmers Aufzeichnungen fließen tagespolitische Bewertungen, Schilderungen seiner gesellschaftlichen Aktivitäten und Beobachtungen von Land und Leuten ein. Die militärische Perspektive tritt deutlich zutage, wobei auffällt, dass er die zeitgleich ablaufenden kriegerischen Ereignisse im Westen fast völlig ausblendet. Der Umstand, dass Bothmer weder Russisch sprach noch über eine einschlägige landeskundliche Spezialisierung verfügte, ist für die Darstellung kein Nachteil. Denn der Verfasser schildert so auch Beobachtungen, die ein ausgewiesener Russland-Fachmann wohl nicht für berichtenswert gehalten hätte, die aber die historische Lektüre interessant und lebendig machen.

Die Begegnung mit Russland im Allgemeinen und mit den Bolschewiki im Besonderen geriet für den preußischen Generalstabsoffizier zu einem regelrechten Kulturschock. Bei der Charakterisierung der Verhandlungspartner dominieren Titulierungen wie "Hunde", "Schufte" oder "die Bande", natürlich auch die ganze Bandbreite antisemitischer Verbalinjurien. Die Formlosigkeit des revolutionären Geschäftsbetriebs und die Unberechenbarkeit der gegnerischen Verhandlungsführung stellten ihn auf eine harte Probe: "Gräßliche Angewohnheit der Leute des neuen Rußland stets "Hand zu schütteln". Verweigerung ist natürlich ausgeschlossen, da muß man mit den Wölfen heulen." (13) Bothmer war sich zwar sicher, dass die Tage dieser Revolutionäre bald gezählt sein würden, vermochte aber in Moskau selbst keine wirksame Opposition zu erkennen. Die Vertreter des zarischen Adels und des städtischen Bürgertums hofften auf die weißen Truppen oder eine deutsche Intervention, übten sich aber ansonsten in Anpassung. Das Dilemma der deutschen Politik, dass man zwar der Bolschewiki zur Liquidierung des Krieges an der Ostfront bedurfte, gleichzeitig ihnen aber in einer Nachkriegsordnung keinen Platz einräumen wollte und mit dem Vorstoß in die Ukraine weitere Feindschaft schuf, tritt in Bothmers Aufzeichnungen zutage.

Noch pointierter geraten seine Einlassungen zum Verhältnis von Militär und Diplomatie auf deutscher Seite. "Energielosigkeit und Schlappheit" (68) wirft er den Diplomaten vor: "Durch und durch anglophil auch jetzt noch, bar jeder patriotischen Wärme, strotzend von gekünsteltem Objektivismus, der auch angewendet wird, wenn bei anderen Menschen nur das Herren-Bewußtsein als Deutscher spricht." (72) Zur Personifizierung dieser Klasse von Diplomaten erwuchs für Bothmer vor allem der ehemalige Berater des Reichskanzlers Bethmann Hollweg, Kurt Riezler, den er in Moskau als Legationsrat erlebte (siehe die wenig schmeichelhaften Charakterisierungen 20, 24, 85).

Am Ende kann sich der Leser des Eindrucks nicht erwehren, dass er mit Karl von Bothmer einen Zeitzeugen vor sich hat, dessen professionelle Qualifikation in Moskau an ihre Grenzen gestoßen ist. Das wird schon daraus ersichtlich, dass die Heeresleitung bald einen regulären Militärattaché mit Russlandexpertise nach Moskau nachschickte. In die politischen Überlegungen im engeren Zirkel der Gesandtschaft hat Bothmer wohl keinen Einblick gehabt. Gleichwohl bilden seine Ausführungen einen lesenswerten Einblick in eine turbulente Episode des Jahrhunderts, gerade weil er auf seine Art ein Außenseiter blieb.

Die Edition profitiert von der ausgewiesenen Kennerschaft des Bearbeiters und ist in den politischen wie militärischen Hintergrundinformationen erhellend. Als bedauerlicher Mangel sind die allzu dürren biografischen Informationen zu Bothmer zu vermerken. Mit einer Fußnote zur weiterführenden Literatur ist das nicht getan. Die Hinweise auf einen "Nachlass Bothmer", offenbar unpublizierte "Erinnerungen" und eine "Personalakte" bleiben kryptisch. Dass sich das Manuskript in "leidlichem Zustand" (VII) befindet, ist ja schön und gut. Interessanter wäre es aber gewesen, zu erfahren, wo es sich eigentlich befindet. Wäre es zuviel verlangt gewesen, wenn Herausgeber und Bearbeiter dem Leser wenigstens die Lebensdaten des Verfassers verraten hätten?


Anmerkungen:

[1] Karl Freiherr von Bothmer: Mit Graf Mirbach in Moskau. Tagebuch-Aufzeichnungen und Aktenstücke vom 19. April bis 24. August 1918, Tübingen 1922.

[2] Winfried Baumgart: Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Wien und München 1966.

Markus Pöhlmann