Robert Gellately: Lenin, Stalin und Hitler. Drei Diktatoren, die Europa in den Abgrund führten, Bergisch-Gladbach: Lübbe 2009, 891 S., ISBN 978-3-7857-2349-4, EUR 29,95
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Nach Alan Bullock [1] und Richard Overy [2] ist Robert Gellately der dritte angelsächsische Spezialist für die Geschichte des Nationalsozialismus, der sich an einem globalen Vergleich des bolschewistischen und des nationalsozialistischen Regimes versucht. Die genannten, nach Meinung Gellatelys "beiden besten Studien, die sich mit dem sowjetischen Kommunismus und dem deutschen Nationalsozialismus befassen", hätten indes die Rolle Lenins und die Chronologie zu wenig berücksichtigt (16). Wesentlich stärkere Konzentration auf Lenin, der angeblich häufig in allzu positiven Tönen von Stalin abgesetzt werde, zeichne seinen eigenen Ansatz den Vorgängerstudien gegenüber aus, betont der Autor eingangs.
Vorgelegt hat er ein dickes Buch, das den Studien von Bullock und Overy letztlich doch in vielem mehr ähnelt als es von ihnen abweicht. Denn Lenin bei der Auseinandersetzung mit der sowjetischen Diktatur in den Blick zu nehmen, ist gewiss geboten, aber obwohl Gellately wiederholt betont, es seien ihm immer wieder positive Einschätzungen Lenins begegnet, kämpft er hier mit einem toten Drachen. In der seriösen Historiografie findet sich schon seit Langem kaum noch jemand, der Lenin für einen Wohltäter der Menschheit hält. Die verbreiteten wissenschaftlichen Darstellungen der russischen Revolution von Richard Pipes oder Orlando Figues, Robert Services Leninbiografie oder die bemerkenswerte klassische Studie über die Tscheka von George Leggett aus dem Jahr 1981 - alles Werke angelsächsischer Historiker, auf die Gellately sich stützt - zeichnen hier schon lange ein anderes, realistisches Bild, von vielen anderen einschlägigen Werken gar nicht zu sprechen.
Die Ähnlichkeit zu den Werken von Bullock und Overy besteht in einem gravierenden Defizit: Nirgends wird schlüssig erklärt, worauf die Darstellung eigentlich abzielt. Natürlich, da ist das Erschrecken über das historische Bild des europäischen Kontinents, das sich immer mehr eindunkelt, je mehr über die Gewalt im Osten - aber auch auf der Iberischen Halbinsel - bekannt wird. Ins Gedächtnis zu rufen, in welchem Maße noch vor wenigen Jahrzehnten unser heute trotz Krise relativ prosperierender, überwiegend rechtsstaatlich verfasster und - nach dem Ende der Jugoslawienkriege und abgesehen von den kaukasischen Unruheherden - weitgehend friedlicher Kontinent in der Hand von rücksichtslosen, ideologisierten Gewaltpolitikern war, ist sicherlich wichtig und richtig. Aber das ist eher ein Thema für eine Rede oder einen Essay [3], von einer großen Monografie muss man mehr erwarten.
Wie seine Vorgänger verarbeitet Gellately eine riesige Menge an historischem Stoff, lässt aber die Frage unerörtert, ob es um eine Geschichte der Interaktion oder um einen Vergleich gehen soll. In der Einleitung distanziert er sich deutlich von Ernst Noltes verfehltem "kausalen Nexus". Allerdings gerät seine Darstellung zuweilen auch in die Nähe von fragwürdigen Reiz-Reaktionsmustern, so wenn der NS-Antisemitismus als ein stark von der Novemberrevolution und der kurzlebigen Münchner Räterepublik bedingtes Phänomen beschrieben wird. Wann Hitler zum Antisemiten wurde, ist eine viel debattierte und nicht zu beantwortende Frage, weil vollkommen eindeutige Äußerungen erst mit dem Beginn seiner Karriere vorliegen. Der Hitlerbiograf Ian Kershaw hat diesen Befund indes in den angemessenen Interpretationsrahmen gestellt und geschrieben: "Dennoch fällt es schwer zu glauben, dass ausgerechnet Hitler, betrachtet man die Intensität seines Judenhasses zwischen 1919 und 1945, von der vergifteten Atmosphäre in einer der antijüdischsten Städte Europas, dem Wien seiner Zeit, unbeeindruckt geblieben war." [4] Was die deutsche Gesellschaft insgesamt betrifft, war der Antisemitismus schon lange vorher virulent, wie etwa die demütigende "Judenzählung" im deutschen Heer von 1916 zeigt, und er sah sein Feindbild nicht allein im "jüdischen Bolschewismus". Gerade dieses ideologische Moment wird von Gellately, geleitet von dem nicht reflektierten Interpretationsmuster einer Konfrontationsgeschichte, allzu sehr in den Vordergrund gerückt. Davon zeugt auch die Überschrift von Kapitel 22 "Konkurrenz um die Weltherrschaft", das die Entwicklung hin zum Krieg bis zum Hitler-Stalin-Pakt beschreibt. Folgt man Gellatelys eigener Darstellung, kann von einer Konkurrenz um die Weltmacht zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht die Rede sein. Er gibt einen Abriss von Hitlers Kriegspolitik und beschreibt Stalins Kalkül, die zwei kapitalistischen Staatengruppen, die "um die Weltherrschaft" kämpften, gegeneinander auszuspielen und Gebiete zurückzugewinnen, die das zaristische Russland verloren hatte. "Weltmacht"-Aspirationen existierten allenfalls in Form des prinzipiellen weltrevolutionären Anspruchs des Kommunismus, dessen faktische Bedeutung allerdings einer kritischen Erörterung bedürfte, die hier nicht stattfindet. Reichlich verkürzt wird im Übrigen die Genese des "Teufelspakts" dargestellt.
Ein weiteres Beispiel für das methodisch unzulängliche Konfrontationsmuster ist die Apostrophierung des "Unternehmens Barbarossa" als "Krieg gegen die Kommunisten" (Überschrift von Kapitel 28, 583ff.). Natürlich weiß Gellately, dass "Barbarossa" kein politischer Kampf gegen die sowjetischen Kommunisten, sondern ein Vernichtungskrieg gegen die Bewohner der Sowjetunion war und er stellt dies auch dar, verfängt sich aber dennoch in den Spurrillen der Parallelisierung, denen nur mit einem klaren analytischen Konzept auszuweichen ist.
Bei aller Wertschätzung früherer Arbeiten von Gellately kann der Rezensent dem vorliegenden Band wenig abgewinnen. Einmal mehr werden hier kursorisch die Geschichten zweier in Vielem sehr verschiedener totalitärer Regime in ineinander verschränkten Kapiteln erzählt, wobei die Passagen zur Sowjetunion oberflächlicher und unschärfer und auch die Ausführungen zu den zwischenstaatlichen Beziehungen nicht immer treffsicher sind. Ein wesentlicher Erkenntnisgewinn ist daraus nicht zu ziehen.
Anmerkungen:
[1] Alan Bullock: Hitler und Stalin. Parallele Leben, Berlin 1991.
[2] Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Russland, München 2005; vgl. dazu die Mehrfachbesprechung in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1, http://www.sehepunkte.de/2006/01/forum/richard-overy-die-diktatoren-103/.
[3] Klare Konturen zeichnet in dieser Hinsicht Timothy Snyder in seinem Essay "Holocaust: The ignored reality", http://www.eurozine.com/articles/2009-06-25-snyder-en.html.
[4] Ian Kershaw: Hitler. 1889-1936, Stuttgart 1998, 102.
Jürgen Zarusky