Aviezer Tucker (ed.): A Companion to the Philosophy of History and Historiography (= Blackwell Companions to Philosophy; Vol. 41), Hoboken, NJ: John Wiley & Sons 2009, XII + 563 S., ISBN 978-1-4051-4908-2, GBP 95,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Die von Aviezer Tucker herausgegebene Sammlung ergänzt den ebenfalls in der Reihe der Blackwell Companions publizierten Band zum historischen Denken des Westens durch die explizite Konzentration auf Fragen der Geschichtsphilosophie. [1] Sie durchleuchtet das Feld dabei nicht so sehr systematisch, sondern liefert vielmehr einen vielstimmigen Kommentar, dessen Ertrag sich besonders aus den Verbindungen der Beiträge untereinander ergibt.
Geschichtsphilosophie kann sich mit Fragen des Verlaufs vergangener Entwicklungen beschäftigen oder Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung, also die Formen der Erfassung, Analyse und Darstellung des Gegenstandes, in den Mittelpunkt stellen. Abgesehen von den Beiträgen zu Hegel oder Marx behandeln die Autoren des Bandes vor allem den zweiten Typ und können dafür wichtige Gründe anführen. Wie Frank Ankersmit in einem klar formulierten Beitrag resümiert, entsteht der Erkenntniswert historischer Darstellungen nicht aus dem Wahrheitsgehalt einzelner Aussagen, sondern aus der Verbindung einzelner Fakten zu einer historiografischen Erklärung. So wie im Alltag ein Handlungsplan die erfolgversprechenden Elemente einer Situation miteinander verbindet, so bringt der Historiker die aus seiner Sicht relevanten Faktoren vergangenen Geschehens in einen Zusammenhang. Daraus folgt, dass der vordringliche Gegenstand der Geschichtsphilosophie nicht die Geschichte, sondern die Geschichtsschreibung, die Herstellung begrifflicher und narrativer Zusammenhänge aus vergangenen Fakten, ist.
Die Art und Weise der Herstellung dieser Zusammenhänge beruht auf ontologischen und epistemologischen Vorannahmen, in deren Kontext geschichtswissenschaftliche Werke entstehen. Christopher Lloyd macht in seinem Beitrag deutlich, dass die verschiedenen Schulen der Historiografie dabei ein nicht wegzudenkender Bestandteil der modernen Geschichtswissenschaften sind, weil über die Definition entscheidender Eigenschaften oder Kräfte des historischen Geschehens keine Einigkeit besteht. Durch die Beiträge wird besonders ein Basiskonflikt der Geschichtswissenschaften deutlich und damit zugleich, dass manche überkommene Beschreibung der Historiografiegeschichte zu ihrem Verständnis nicht viel beitragen kann: Im Gegensatz zur klassischen Auffassung der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als "Historismus" kann Robert d'Amico kein damit bezeichnetes Phänomen ausmachen und stellt aus diesem Grund nur noch ausgewählte, voneinander abweichende Verwendungsweisen des Begriffs vor. Statt ihre Fragen an der Fortsetzung oder Ablehnung einer "historistischen" Geschichtswissenschaft auszurichten, folgen viele der Autoren dem vielgestaltigen Gegensatz, der seit Wilhelm Dilthey mit den Kategorien "Erklären" und "Verstehen" beschrieben wird. Beide Begriffe erhalten nicht nur eigene Einträge, sondern sie werden u.a. auch in den Beiträgen von Rudolf Makreel zur Hermeneutik und Charles Bambach zum Neu-Kantianismus sowie in Aviezer Tuckers Vorstellung des Themas Kausalität und Stephan Berrys Überblick zu historischen Gesetzen einschlägig behandelt. Es stellt einen Vorzug des Bandes dar, dass die verschiedenen Perspektiven nicht auf einen gemeinsamen Rahmen nivelliert wurden, sondern in ihrer Divergenz zum Ausdruck kommen. Giuseppina D'Oro bekennt sich in ihrem Artikel zu "Verstehen" zu einem idealistischen Verständnis von Geschichtswissenschaft, die im Gegensatz zu den kausalen Erklärungsformen der Naturwissenschaften einem hermeneutischen Ansatz folge. Intentionen können nicht unabhängig von einem Begriff der durch sie veranlassten Handlung identifiziert werden. Laut D'Oro haben Historiker deshalb keine Möglichkeit, David Humes Vorgabe der Feststellung zweier unabhängiger Relata von Kausalbeziehungen zu erfüllen. Für sie begründet der Nachvollzug von historischen Überzeugungen, deren Semantik in den Handlungsbegriffen bereits festgelegt ist, eine autonome geisteswissenschaftliche Methode. Dagegen sehen Graham und Cynthia Macdonald und Aviezer Tucker in Kausalaussagen den Leim, der historiografische Gebäude zusammenhält. Zum einen argumentieren die Befürworter der historischen Kausalerklärung, dass in allen Formen der Kausalaussage ihre Relata in begrifflicher Abhängigkeit voneinander stehen, zum anderen, dass eine begriffliche Beziehung eine kausale Beziehung nicht ausschließt - und damit, dass keine eigene Methode der Geisteswissenschaften notwendig ist. Die Konsequenzen der unterschiedlichen Annahmen strahlen in weite Bereiche der Geschichtsphilosophie von Geschichtsschreibung aus. Sie berühren u.a. die Frage, ob die Ontologie der historischen Welt aus Ereignissen oder Strukturen besteht (Lars Udehn), welche Bedeutung kontrafaktische Konditionale in der Erkenntnis von Geschichte haben (Elazar Weinryb), inwiefern der Nachvollzug narrativer Strukturen eine besondere Form geschichtlichen Sinnverstehens darstellt (Frank Ankersmit) [2], inwiefern Hermeneutik anachronistische Fehlschlüsse vermeiden kann (Carlos Spoerhase / Colin King) und sie werden in der Diskussion einzelner Geschichtsdenker wie Vico, Darwin, Croce und Collingwood mitreflektiert.
Durch die Beiträge entsteht ein multiperspektivisches Panorama, in dem allerdings ohne nähere Begründung die westliche Geschichtsphilosophie der Neuzeit klar dominiert. Deutlicher als der in der historischen Reihe der Blackwell Companions herausgebrachte Vergleichsband folgt die Themenauswahl der überkommenen Auffassung von einem nach 1800 in Europa geborenen wissenschaftlichen Geschichtsdenken. Geschichtsphilosophische Entwürfe außerhalb des (west-)europäischen neuzeitlichen Kanons erscheinen bis auf einen Artikel zur muslimischen und zur jüdisch-christlichen Geschichtsphilosophie nur in Nebensätzen. Die Kritik an einer in europäischen Begriffen konstruierten Geschichte von Dipesh Chakrabarty oder Arif Dirlik wird nicht eigens diskutiert. Die Entscheidung, den Ansatz der postcolonial studies dem Überblick zur Postmoderne zuzuschlagen, erscheint dabei zumindest fragwürdig. [3] In dieser Hinsicht fällt der Band also entweder hinter jüngere Bemühungen um eine globale Historiografiegeschichte zurück oder er weicht einer Diskussion um die notwendige Einschränkung der eigenen Perspektive aus.
Jacob Burckhardt hat einmal zur Rechtfertigung seiner Vorgehensweise angeführt, angesichts der Breite des von ihm zu behandelnden Feldes sei es nicht seine "Schuld, daß sich Alles mit Allem berührt und daher jede Eintheilung streitig bleibt." Während es zunächst irritierend wirkt, dass eine Reihe von Beiträgen ähnliche Themen behandelt und zugleich unterschiedlichen Kapiteln zugeordnet wird, kann dies als Vorteil gewertet werden. Wer sich die Mühe macht und den Verbindungen der Artikel untereinander nachgeht, erhält durch den Band einen gewinnbringenden Einblick in zentrale geschichtsphilosophische Debatten des Westens, deren Spuren in der historiografischen Praxis allgegenwärtig sind.
Anmerkungen:
[1] Lloyd Kramer / Sarah Maza (eds.): A Companion to Western Historical Thought, Malden/Mass. u.a. 2002.
[2] Vgl. hierzu auch Noëll Carroll: On the Narrative Connection, in: New Perspectives on Narrative Perspective, ed. by Willie van Peer / Seymour Chatman, Albany 2000, 21-41.
[3] Vgl. u.a. Kwame Anthony Appiah: Is the Post- in Postmodernism the Post- in Postcolonial?, in: Critical Inquiry 17 (1991), 336-357.
Philipp Müller