Peter Schmid / Heinrich Wanderwitz (Hgg.): Die Geburt Österreichs. 850 Jahre Privilegium minus (= Regensburger Kulturleben; Bd. 4), Regensburg: Schnell & Steiner 2007, 347 S., ISBN 978-3-7954-1911-0, EUR 29,90
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Wenn in der deutschsprachigen Mediävistik von "Geburten" die Rede ist, dreht es sich in der Regel um Gebärvorgänge ganzer Nationen respektive Völker, wenn nicht gar Kontinente. Deutschland und Frankreich wurden in diesem Sinne ebenso geboren wie Europa und natürlich nicht zuletzt auch Österreich. Das antiquierte Konzept einer morphologisch-organischen Geschichtsbetrachtung, sei es auch nur metaphorisch gemeint, ist wohl grundsätzlich zu meiden, auch wenn solche Deutungsmodelle im Sinne der fachübergreifenden Verständigung noch immer praktikabel und statthaft sind.
So ist es nur allzu verständlich, dass anlässlich der 850-Jahrfeier des sogenannten Privilegium minus, gewürdigt mit einem von Peter Schmid und seinem Lehrstuhl für Bayerische Landesgeschichte ausgerichteten Symposium, im Titel des 2007 erschienenen Tagungsbandes erneut Österreichs Geburt verkündet wird.
Dieser Band mit seinen 14 Beiträgen ist gewichtig. Jeder Verdacht auf eine mit der Titelgebung anzunehmende unangemessene, anachronistische Zugriffsweise verflüchtigt sich bei der Lektüre vollständig. Prominente Vertreter der bayerischen sowie österreichischen Mittelalterforschung sorgen mit ihren Untersuchungen für eine nahezu erschöpfende Behandlung der mediävistischen Aspekte der einsetzenden österreichischen Geschichte, während mit den Ausführungen von Rudolf Lieb, Karl Möseneder, Andreas Gemes und Bernhard Löffler die Perspektive über das Konfessionelle Zeitalter, den Barock, den Zweiten Weltkrieg und schließlich bis in die jüngste Vergangenheit hinein komplettiert wird. So entsteht tatsächlich eine "Geschichte Österreichs" vom Frühmittelalter bis in unsere Tage in steter Auseinandersetzung mit bayerischen oder deutschen Parallelentwicklungen und entsprechenden Dependenzen.
Der hier näher zu besprechende mediävistische Hauptteil fokussiert in immer neuen Anläufen und unterschiedlichen Einbettungen das sogenannte Privilegium minus selbst, sein Zustandekommen und seine Bedeutung. Zum einen sind dies die von Knut Görich und Ferdinand Opll dargelegten politischen und verfahrensrechtlichen Begleitumstände. Die Vorgänge vom September 1156 deutet Görich als Ausdruck spezifischer Kommunikations- und Inszenierungsgewohnheiten der rangbewussten hochmittelalterlichen Gesellschaft, die hinter einer "Konsensfassade" (35) nach einem von den eigentlichen Inhalten abgekoppelten "tragfähigen Ausgleich" (ebd.) zu suchen hatte. Opll verweist in Ergänzung dazu auf die Abhängigkeit des Königtums von den "fürstlichen Mitgestaltern" (60); personale, ja persönliche Faktoren und weniger prozessrechtliche Verbindlichkeiten haben demnach den Ausschlag für die Abtrennung der Ostmark vom Herzogtum Bayern gegeben.
Die Parameter für die Beurteilung eines 'verfassungsgeschichtlich' hochbrisanten Vorganges der mittelalterlichen Geschichte werden in dieser Wendung anders als in der älteren Forschung bestimmt. Weder konkrete Rechtsnormen noch das viel gerühmte politische Geschick Friedrich Barbarossas werden nunmehr verantwortlich gemacht, das Geschehen auf den Wiesen von Barbing bestimmt zu haben. Vielmehr sieht die jüngere Forschung den Konflikt um Bayern in einem "Gebäude des Miteinanders von König und Fürsten" (60) ausgetragen, in dem sämtliche bislang diskutierte Faktoren ihren Platz finden. Einschränkend muss sicherlich erwähnt werden, dass das Modell der 'konsensualen Herrschaft' (Bernd Schneidmüller) im Verbund mit 'Spielregeln der Politik' oder 'Ritualen der Macht' (Gerd Althoff) ein mittlerweile vielfach erprobtes und durchaus bewährtes Interpretationsmuster darstellt. Auch die Barbarossazeit wird insbesondere nach den Forschungen Knut Görichs und Werner Hechbergers (der mit einem eigenen Beitrag zu den "Welfen in Bayern" im Tagungsband vertreten ist) schon längst nach diesen Maßgaben betrachtet und gedeutet.
Als zweiter Schwerpunkt des Bandes ist unschwer ein historiografischer Themenkreis auszumachen. Die Spiegelung der Erhebung der Ostmark zum Herzogtum und der Abtrennung vom bayerischen Dukat in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung behandeln die Beiträge von Rudolf Schieffer, Roman Deutinger und Alois Schmid. Otto von Freising als reichsgeschichtlich orientierter Historiograf steht mit seiner Herkunft und seiner unmittelbaren Beteiligung an der Lösung der bayerischen Frage naturgemäß im Mittelpunkt solcher Überlegungen. Für Schieffer wirft die Augenzeugenschaft Ottos keineswegs nur die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Berichtes zum 8. September 1156 in den Gesta Friderici auf. Der unmittelbare Vergleich des von Otto Berichteten mit dem Inhalt des Privilegium minus zeige darüber hinaus, wie der Augenzeuge Otto zugleich eben auch Beteiligter am Geschehen und dessen Zustandekommen war, dem kaum an einer Darstellung von Einzelheiten in der Kompromissfindung (bis hin zur Königswahl von 1152) gelegen sein konnte. Die concordia zwischen dem bayerischen und dem österreichischen Herzog sei Auftrag und Ziel einer "Bildregie" (177) gewesen, der Otto eben auch viele Details seines den modernen Historiker besonders interessierenden Wissens opferte. Roman Deutinger greift sodann den "mysteriösen Hinweis Ottos von Freising auf die drei Grafschaften" (198) auf und sieht in dieser Formulierung und dem Inhalt des Privilegium minus "Zeugnisse für den Verfassungswandel des 12. Jahrhundert" (ebd.): Die frühmittelalterliche Institution Grafschaft wurde im Zuge des Landesausbaus und demografischer Veränderungen obsolet, das Verhältnis zwischen König und Fürsten wurde zunehmend lehnrechtlich ausgedeutet. Alois Schmid schließlich nimmt die bayerische und österreichische Geschichtsschreibung vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert in den Blick und stellt ausgehend von dem Befund, dass zunächst "das Privilegium minus [...] ein volles Jahrhundert lang keine Beachtung" fand (213), eine im 13. Jahrhundert (mit Hermann von Niederaltaich) einsetzende Tendenz zum "Negativurteil" (225) in der bayerischen Historiografie fest. Ein bayerisches Verlustdenken bezüglich der 'Ostmarken' schlage sich bis in neueste Darstellungen hinein nieder.
Die übrigen Beiträge runden das Bild mit den frühmittelalterlichen Grundlagen Bayerns (Herwig Wolfram), diplomatischen Gesichtspunkten zum Privilegium minus (Werner Maleczeck), mit der Fälschungsgeschichte des Privilegium maius (Eva Schlotheuber) sowie zur österreichischen Landesbildung ab 1156 (Karl Brunner) ab.
Der wissenschaftliche Ertrag des Bandes ist enorm. Nicht nur künftige Forschungen zum Privilegium minus im engeren Sinne, auch Fragen nach der mittelalterlichen Geschichte Bayerns und Österreichs, der Struktur und Funktionsweise des Reiches, nach den Staufern, Welfen und Babenbergern und schließlich nach Rezeptionsweisen zeitgenössischer sowie späterer Geschichtsschreiber bis hinein in unsere Zeit werden von hier aus ihren Ausgangspunkt nehmen müssen.
Lars Hageneier