Hannes Grandits: Herrschaft und Loyalität in der spätosmanischen Gesellschaft. Das Beispiel der multikonfessionellen Herzegowina (= Zur Kunde Südosteuropas; Bd. II/37), Wien: Böhlau 2008, XIX + 789 S., ISBN 978-3-205-77802-8, EUR 89,00
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Die unter der Bezeichnung Tanzimat bekannt gewordenen Reformen im Osmanischen Reich, die im engeren Sinne zwischen 1839 und 1878 durchgeführt wurden, stießen auf ein reges Interesse seitens der historischen Forschung. Jedoch liegen nur sehr wenige Studien vor, die sich eingehender mit der Umsetzung der Reformvorhaben in den einzelnen Provinzen beschäftigen. Der Mangel an entsprechenden Arbeiten zeigt sich beispielsweise daran, dass bis dato noch keine umfassende Darstellung über die "Musterprovinz" der Reformer, die 1864 gegründete Donauprovinz (tuna vilayeti), erschienen ist. Die vorliegenden Darstellungen skizzieren vorwiegend die administrativen und ökonomischen Strukturen, jedoch berücksichtigen sie kaum die sozialen Folgen, die mit der Implementierung der Reformen einhergingen. In einer vergleichenden Untersuchung hat Maurus Reinkowski am Beispiel des albanischen Raumes und des Libanongebirges gezeigt, wie die Versuche des Staates, sich in allen Regionen des Reiches und allen Sphären der Gesellschaft Omnipräsenz und Legitimität zu sichern, schließlich zu einer Legitimationskrise der osmanischen Herrschaft führten.[1] Hannes Grandits geht in seiner sehr detaillierten Analyse der Frage nach, wie dieser Prozess der versuchten umfassenden staatlichen Durchdringung des Raumes die Macht- und Loyalitätsverhältnisse im Alltag sozialer Gruppen in der Herzegowina veränderte.
Das "lange 19. Jahrhundert" wird in Bezug auf Südosteuropa noch immer vorwiegend aus der Perspektive "nationaler" oder "religiöser" Fragestellungen untersucht, wodurch ein differenzierter Blick auf die vielfältigen und regional unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Transformationsprozesse erheblich erschwert wird. Der hier zu rezensierenden Studie gelingt durch die Fokussierung auf die multiplen Loyalitäten, die das soziale Geflecht im Untersuchungsraum bildeten, eine facettenreiche Abbildung der im 19. Jahrhundert in der Herzegowina vorherrschenden gesellschaftlichen Gegebenheiten. Sowohl die urbanen als auch insbesondere die ländlichen Lebenswelten analysiert Hannes Grandits mit einem mikrogeschichtlichen Ansatz, der es ihm ermöglicht, lokale Entwicklungen in einer Perspektive der longue durée zu analysieren. Im zweiten Teil zeichnet der Autor ländliche Lebenswelten und Loyalitäten am Beispiel einzelner Dörfer bzw. Streusiedlungen (Zavođe, Brotnjopolje, O šanjićbrdo) in der Herzegowina nach und macht deutlich, wie sich die Macht- und Abhängigkeitsstrukturen während der osmanischen Herrschaft immer wieder gewandelt hatten. Diese "Lokalgeschichten" spiegeln die von der neueren Forschung postulierte These wider, wonach die Reformen eine Gegenbewegung zu den Dezentralisierungs- und Regionalisierungstendenzen im 17. und 18. Jahrhundert darstellten. [2] Die Anfänge der Tanzimat richteten sich daher zunächst vor allem gegen Institutionen, die in dieser Zeit an Einfluss in den Provinzen durch ihre starke Verankerung in den lokalen Strukturen gewonnen hatten. In diesem Zusammenhang sind die unter Einsatz militärischer Gewalt erfolgte Auflösung des Janitscharenkorps (1826), die in Städten wie Mostar eine starke Stellung u.a. durch ihre enge Verbindung mit den Zünften einnahmen, die Abschaffung des Kapudanats (1835) oder des Timarsystems (1831) hervorzuheben. Diese Beispiele zeigen aber auch, dass insbesondere die frühen Tanzimat, wie die Reformbemühungen bis etwa 1856 bezeichnet werden können, in vielen Fällen Entwicklungen beschleunigten oder zu einem Abschluss brachten, die bereits davor in Gang gekommen waren. Wenn die von Hannes Grandits präzise beschriebenen Transformationsprozesse noch stärker im Lichte langfristiger gesamtosmanischer Entwicklungen gestellt werden würden, wäre dieses Charakteristikum der frühen Tanzimat deutlich erkennbar. Der Bedeutungsverlust der sipahi (390-393) hatte bereits im 17. Jahrhundert eingesetzt [3] und auch der Anfang vom Ende der Zünfte (396-401) ließe sich durchaus in das 18. Jahrhundert verorten, als sie ihre Monopolstellung im Handwerk immer schwerer verteidigen konnten.
Der teilweise bereits vor den Tanzimat eingesetzte und schließlich in Bosnien und der Herzegowina 1850/51 gewaltsam durchgesetzte weitgehende Elitenwandel in Verwaltung und Militär kennzeichnete die zweite Reformphase. Grandits zeichnet zwei Tendenzen am Beispiel der Herzegowina nach, die bezeichnend für die Reformpläne waren. Der Weg in den Staatsdienst führte fortan fast nur noch über eine "moderne" staatliche Ausbildung, die sowohl in Istanbul als auch in den Provinzen selbst erfolgte. Die neuen Staatsdiener bildeten eine Beamtenschaft, die in den Provinzen des Reiches die Reformen implementieren sollte. Gleichzeitig wurden lokale Institutionen stärker in die Verwaltungsstrukturen eingebunden, wodurch im ländlichen Raum insbesondere die Stellung der dörflichen Muhtare und Knezen erheblich gestärkt wurde, die nun die Einhebung von Steuern durchführen sollten. Die Neuordnung der Provinzverwaltung, die mit dem Bedeutungszuwachs lokaler Selbstorganisationen auch die Herausbildung einer Gemeindeselbstverwaltung förderte, erfolgte durch das Vilayetgesetz von 1864, dessen Umsetzung zunächst in der Donauprovinz "erprobt" und später auch in anderen Provinzen des Reiches angewandt worden ist.
Die Implementierung der Tanzimat in der Herzegowina ist auch ein Beispiel dafür, wie stark die Reformer insbesondere ab den 1850er Jahren von außenpolitischen Faktoren abhängig waren. Die Konsuln der Großmächte agierten nicht nur als Repräsentanten ihrer Länder, sondern griffen auch aktiv in die Politik der osmanischen Provinzverwaltung ein. Diese zunehmende Einflussnahme der Großmächte auf die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Reformer war ein Grund dafür, dass die Zentralmacht bei der Umsetzung ihrer Modernisierungsansätze stets die Haltung der anderen Mächte berücksichtigen musste. Ein besonderes Kennzeichen des 19. Jahrhunderts bestand darin, dass im Kontext der "Orientalischen Frage" lokale Aufstände oder Unruhen im Osmanischen Reich häufig nicht mehr eine "innenpolitische Angelegenheit" blieben, sondern sehr schnell eine gesamteuropäische Dimension erhielten. Die Aufstände in der Herzegowina belegen das oftmals gezielte Zusammenwirken lokaler Gewaltgemeinschaften mit benachbarten Staatsgebilden (Serbien, Montenegro) sowie die Einflussnahme von Großmächten. In den osmanischen Gebieten Südosteuropas kam es im 19. Jahrhundert immer wieder zu bewusst initiierten Unruhen, mit denen die Aufmerksamkeit der Großmächte erregt werden sollte, um bestimmte politische Ziele durchzusetzen.
Die Lesbarkeit dieser umfangreichen Monographie (748 S.) wird gelegentlich durch konzeptionelle Schwächen gemindert, da einige Sachverhalte in mehreren Kapiteln thematisiert werden, wodurch der Autor immer wieder zu Querverweisen gezwungen ist. Diese Einschränkung fällt allerdings angesichts des hohen Informationsgehaltes der Studie, der auch durch zahlreiche Abbildungen, einem ausführlichen Glossar sowie einem Personen-, Orts- und Sachregister gewährleistet wird, kaum ins Gewicht.
Insgesamt stellt die auf einer breiten Quellen- und Literaturbasis erstellte Studie einen wichtigen Beitrag zur Tanzimatforschung dar, da sie - im Gegensatz zur Mehrzahl der Publikationen - aus der Perspektive eines von Istanbul weit entfernten Gebietes und nicht aus dem Blickwinkel der Zentralverwaltung die regionale Umsetzung der Reformvorhaben und die damit verbundenen gesellschaftlichen Auswirkungen darstellt. Es handelt sich aber auch um sehr differenziert geschriebene Regionalgeschichte, die sich nicht in den Kategorien von "Nation", "Nationalismus" und "Religion" verfängt. In dem von Hannes Grandits gewählten kultur- und gesellschaftshistorischen Ansatz wird ein Weg beschritten, der zu einer vom Ballast der Mythologisierung und Ideologisierung befreiten Geschichtsschreibung zu Südosteuropa führt. Dieser Teil Europas hat immer noch zu wenig Geschichte, aber zu viel Mythos.
Anmerkungen:
[1] Maurus Reinkowski: Die Dinge der Ordnung. Eine vergleichende Untersuchung über die osmanische Reformpolitik im 19. Jahrhundert. München 2005, 287.
[2] Carter V. Findley: Tanzimat, in: R. Kasaba (ed.): The Cambridge History of Turkey. Vol. 4: Turkey in the Modern World. Cambridge, 2008, 11-37.
[3] Für den syrmisch-slawonischen Raum zeigt dies Nenad Moačanin: Town and Country on the Middle Danube, 1526-1690. Leiden 2006.
Markus Koller