Albert Boime: Revelation of Modernism. Responses to Cultural Crises in Fin-de-Siècle Painting, Columbia / London: University of Missouri Press 2008, XXIV + 250 S., ISBN 978-0-8262-1780-6, USD 54,95
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Innerhalb der verschiedenen Erkenntnisinteressen der aktuellen Kunstgeschichte markiert das zu rezensierende Buch "Revelation of Modernism. Responses to Cultural Crises in Fin-de-Siècle Painting" von Albert Boime eine eigene, spektakuläre Position. In vier Fallstudien beschäftigt sich der Autor mit dem inhaltlichen Hintergrund bestimmter Bildmotive der postimpressionistischen Malerei von Vincent Van Gogh, George Seurat, Paul Cézanne und Paul Gauguin. Nach eigener Angabe orientiert er sich dabei methodisch an Sven Lövgrens 1959 edierter Publikation "The Genesis of Modernism: Seurat, Gauguin, Van Gogh, and French Symbolism in the 1880s". Dem schwedischen Kunsthistoriker folgend postuliert Boime, dass sich bei Künstlern generell der Übergang von einer alten Epoche zu einer neuen durch eine "Krise" in der Art innerer Konflikte, existentieller Sorgen und traumatischer Weltuntergangsängste äußert: "Apocalyptic thinking and feeling are inevitably linked with a sence of decadence at the end of an era and associated with periods of renovation. [...] In art this process is closely correlated with changing images of a starling novelty." (XII)
Nach seinem Verständnis reagiert die Kunst demnach grundsätzlich auf äußere Geschehnisse. Damit setzt er eine direkte Abhängigkeit der Kunst von sozialen, politischen und geistigen Umwälzungen in bestimmten Zeitabschnitten voraus. Boime greift also auf das Kausalprinzip zurück, um spezifische Wandlungen in der postimpressionistischen Malerei zu erklären. Die Feststellung einer Krise ist für ihn außerordentlich wichtig: Nach Boime war sie dafür verantwortlich, dass sich die Künstler zur Bewältigung derselben den Naturwissenschaften, der Philosophie, der Literatur usw. zuwandten. Boimes Ansatz unterscheidet sich damit grundsätzlich von der auf Wahrnehmungsfragen gerichteten Erforschung des Impressionismus wie beispielsweise Jonathan Crarys und gewinnt einen auf die Psychologie und das soziale Umfeld des Künstlers ausgerichteten Schwerpunkt im Sinne Meyer Schapiros.
Im ersten Fallbeispiel eruiert Boime Van Goghs bekannte Ölbilder mit nächtlichem Sternenhimmel von 1888/89 im Hinblick auf astronomische und literarische Implikationen. Aufbauend auf den Untersuchungen Jean Schwinds schenkt er den Publikationen des Astronomen Camille Flammarion große Beachtung, der zwischen 1860 und 1910 die französische Öffentlichkeit über neue Entdeckungen informierte. Boime trägt zahlreiche Argumente zusammen, welche die Auseinandersetzung Van Goghs mit Flammarion belegen. Dabei macht er geltend, dass Van Gogh astronomische Themen in der Literatur Edgar Alan Poes und Jules Vernes kennengelernt hat, die der Maler 1883 in Briefen namentlich erwähnt. (35-39) Boime zieht daraus den Schluss, Van Goghs Sternschöpfungen sind Illustrationen astronomischer Beobachtungen Flammarions (41), hinter denen sich gemäß seines Deutungskonzepts Vorstellungen des "infinite potential" und der "cosmic catastrophe" verbergen (3).
Ferner befasst sich Boime mit der politischen Geschichte des 1888 entstandenen Ölbilds La Parade de cirque Georges Seurats. Das Werk begreift er allegorisch als Enthüllung verschiedener Aspekt der Politik im modernen Leben (53). Die Hinweise von John Rewald und Paul Smith aufgreifend, konstatiert Boime bei Seurat ein Interesse für den Anarchismus. Dabei richtet er sein Augenmerk auf Bilddetails, in denen der Künstler möglicherweise auf die politische Affäre des charismatischen Generals Georges Ernst Jean Marie Boulanger anspielt, der in Frankreich eine Sozialreform anstrebte, die jedoch an politischen Widerständen scheiterte. In der Forschung wurde bereits auf die Bedeutung des Boulangerismus für den Neoimpressionismus hingewiesen. Boime prüft diese Beziehung im Hinblick auf Seurats Parade, in dem er die Figurendarstellungen mit zahlreichen zeitgenössischen Karikaturen vergleicht. Die soziale Unzufriedenheit und melancholischen Stimmungswerte, die sich nach Boime im Bildwerk Seurats widerspiegeln, sind für ihn weitere Indikatoren dieses politischen Kontexts. Parade repräsentiert seiner Auffassung zufolge die zerstörte Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit in Frankreich Ende der 1880er-Jahre.
Eine prinzipiell skeptische Haltung nimmt Boime gegenüber der Malerei Paul Cézannes ein. Ausführlich referiert er die in der Forschung diskutierte Beobachtung, dass sich Cézannes Bildwerke nur mit großen Anstrengungen dem Betrachtenden öffnen (104). Boime entwickelt daraus die These, dass Cézanne eine allein dem Künstler zugängliche Idealwelt schuf. Konsequent deutet Boime verschiedene Sujets der Cézanne'schen Bildwerke im Sinne der bekannten Zurückgezogenheit des Künstlers. Die Selbstzweifel des Aixer Malers führen Boime zur Feststellung: "Here is clear evidence of Cézanne's desire to impose on a disordered world some kind of coherent structure and to annex it to his own imaginative ideal of permanence - his 'imagined' estate as an extension of his 'real' estate." (110) Der Katholizismus des Künstlers veranlasst Boime schließlich dazu Cézanne als eine alttestamentarische Figur auf der Suche nach dem gelobten Land zu begreifen.
In seiner Publikation stellt Boime ferner Zusammenhänge zwischen der Malerei Paul Gauguins und dem Okkultismus Eliphas Lévis her. Dabei rekurriert er auf Untersuchungen von Ann H. Murray und Vojtech Jira-Wasiutynski, denen zufolge sich der Maler seit 1889 mit dem französischen Diakon auseinandergesetzt hat. Boime interessiert nun, inwiefern sich Gauguins Lévi-Lektüre auf dessen Hauptwerk D'où venons-nous? Que sommes nous? Où allons-nous? von 1897 ausgewirkt haben könnte. Dabei entfaltet er zunächst ein dichtes Beziehungsnetz zwischen verschiedenen Äußerungen Gauguins und Lévis über die Religion. Anschließend stellt er Überlegungen an, inwiefern einzelne Bilddetails des Hauptwerks Gauguins von kabbalistischen Motiven abhängig sein könnten. Nach detaillierten Beobachtungen an verschiedenen Bildmotiven kommt Boime schließlich zum Ergebnis, dass Gauguins Hauptwerk eine Metapher des Garten Edens "for all right-thinking French people, exclusion for the rest" repräsentiert (220). Für ihn artikuliert sich in Gauguins Primitivismus somit "an ideological weapon against democratic society" (220).
Boimes skeptizistische Untersuchung situiert die Kunst insgesamt in ein geschichtliches Szenario teils sachlich, teils spekulativ. Vor dem Hintergrund der aktuellen Geschichtsforschung weist Boimes Methodik hierbei eine grundsätzliche Schwierigkeit auf. Sein Krisenverständnis fußt auf der Vorstellung eines Geschichtsverlaufs mit mehr oder weniger gleichmäßigen Wachstums- und Verfallsprozessen. In den aktuellen Geschichtswissenschaften wird jedoch mit einigem Recht der Diskontinuität historischer Ereignisse und der Singularität des individuellen künstlerischen Diskurses ein höherer Stellenwert eingeräumt als dem veralteten evolutionstheoretisch fundierten Geschichtsmodell. Die Annahme einer über mehrere Jahre oder gar zwei Jahrzehnte virulenten Krise ist hier hinfällig. Für die kunstgeschichtliche Analyse ist dieser Ansatz überaus entscheidend. Ist es doch durchaus fraglich, in welcher Weise sich Krisensituationen in Kunstwerken artikulieren.
Gegenüber dieser methodischen Problematik fördert Boimes Detailrecherche aufschlussreiches Material zutage, das aussagekräftige Einblicke in den historischen Rahmen sowie das Verhältnis der Kunst zur kontemporären Naturwissenschaft, Literatur und Philosophie gewährt. Eine Weiterführung der quellenorientierten Untersuchungen Boimes würde in der Erforschung der postimpressionistischen Malerei sicher fruchtbare Resultate bringen.
Robin Rehm