Rezension über:

Michael Zeuske: Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas, Zürich: Rotpunktverlag 2008, 620 S., ISBN 978-3-85869-313-6, EUR 32,00
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Rezension von:
David Mayer
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
David Mayer: Rezension von: Michael Zeuske: Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas, Zürich: Rotpunktverlag 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/04/16847.html


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Michael Zeuske: Von Bolívar zu Chávez

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Tief greifende Veränderungsprozesse und Transformationen einer Gesellschaft ermöglichen neue Perspektiven auf ihre Geschichte. "Venezuela ist in aller Munde", damit eröffnet Michael Zeuske seine monografische Darstellung der Geschichte Venezuelas. Mit den Stichworten Bolivarische Revolution, Hugo Chávez, Erdöl, Populismus oder Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist umrissen, woher diese Brisanz rührt. Zeuske, Professor für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte an der Universität Köln, nützt diese bereits ein gutes Jahrzehnt währende globale Medienpräsenz eines vormals kaum beachteten peripheren Landes, um dessen Geschichte von der veränderten Gegenwart aus in den Blick zu nehmen. Dies gelingt meisterhaft, weil Zeuske die Geschichte jenes Raumes, der sich ab 1830 staatsrechtlich als postkoloniales Nationsprojekt "Venezuela" konstituierte, schlüssig entlang von strukturierenden Elementen langer Dauer und sich fortschreibenden Erblasten darlegen kann. Zugleich wird den Lesenden keine teleologisch-heroische Widerstandsgeschichte zugemutet, deren letzte Erfüllung gleichsam in der Bolivarischen Revolution liegt. Im Gegenteil, die geschichtspolitischen Mythen, mit denen Präsident Chávez operiert (insbesondere der um soziale Dimensionen erweiterte Bolίvar-Kult) werden dekonstruiert, genauso wie die Rückprojektion einer venezolanischen Nation in die Vergangenheit des 19. oder 18. Jahrhunderts. Um eine einfache Nationalgeschichte handelt es sich bei "Von Bolίvar zu Chávez" nicht. Politik-, Sozial-, und Wirtschaftsgeschichte sind integriert, die geographischen Gegebenheiten und räumlichen Ordnungen werden immer wieder thematisiert. Augenmerk legt Zeuske auch auf karibisch-regionale und globalhistorische Bezüge. Ein besonderes Interesse gilt kulturanthropologischen Ausführungen, den Transkulturationsbegriff des kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz benutzt er als Schlüssel für die Überlagerungsdynamik von indigenen, afrikanischen und europäischen Elementen (diesen theoretisch-methodischen Hintergrund findet man leider nicht genauer dargelegt).

Die im Zürcher Rotpunktverlag erschienene Monografie knüpft an die ebendort von Zeuske veröffentlichten Darstellungen zur Geschichte Kubas und der "Schwarzen Karibik" an. [1] Wie die genannten Bände zeichnet auch "Von Bolívar zu Chávez" viel sprachlicher und formaler Eigensinn aus. Zeuske verschneidet strukturinteressierte und begriffsreiche Analyse mit einem stark narrativen Zug. Im Gestus richtet sich der Text an beide, Fachkreise und breiteres Publikum. Auch die Sprache changiert: während sich begriffsbeladene Nominalstrukturen bisweilen zu tropisch-mächtigen Satzwolken auftürmen, findet man andererseits immer wieder prägnante, beinahe sentenzenhafte Kürze.

Das Werk gliedert sich in zehn Kapitel, die einer Epocheneinteilung folgen. Für die Zeit vor 1800 hebt Zeuske die Instabilität und den punktuellen Charakter der kolonialen Durchdringung der Nordostflanke des südamerikanischen Kontinents hervor. Im Gegensatz zu den anderen spanischen Kolonialgesellschaften in den Räumen präkolumbischer Großreiche gelang auf dem Gebiet des heutigen Venezuela nur eine kleinräumige Besiedlung der küstennahen Kordilleren. Hinter diesen erstreckten sich südlich die gigantischen Ebenen des Flusssystems des Orinioco, die Llanos. Diese fungierten einerseits als Gebiet für Jagden nach Sklaven, andererseits als Rückzugsraum für Indigene, Mestizen und geflohene Sklaven. Früh bildete sich hieraus eine eigenständige Kultur, die auf (halb-)nomadischen Lebensformen und frei weidendem Vieh beruhte. Deutlich hörbar ist Zeuskes Faszination für diese mythenstarke Lebenswelt. Neben dieser räumlich-kulturellen Teilung bildete sich in der Kolonialzeit jene auf überregionalen Export gerichtete "Extraktionsmaschine" aus (zu Beginn vor allem Kakao), welche die Wirtschafts- und Sozialstrukturen in Venezuela bis heute stark bestimmt.

Bei der Darstellung der Unabhängigkeitsperiode ab 1800 streicht Zeuske die Ambivalenzen des Umbruchs heraus: Radikale Verheißungen und Durchbruch zur Unabhängigkeit standen dem Unwillen gegenüber, die zum Gutteil auf Sklavenarbeit beruhenden Agrarverhältnisse zu ändern. Der "militärische Jakobiner" (146) Simón Bolίvar fürchtete nichts mehr als eine Pardocracia, die Herrschaft der mestizischen und schwarzen Mehrheiten. Das auf rassistischen Zuordnungen beruhende Kastensystem der Kolonialzeit und seine Fortdauer als umfassendes System sozialer und kultureller Herrschaft stellt für Zeuske eines der zentralen Elemente venezolanischer Gesellschaft und Politik dar.

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konnte nach einer langen Phase der blutigen und gewaltvollen Auseinandersetzungen (bei denen sich innerelitäre Konflikte und soziale Antagonismen überlagerten) die Extraktionsmaschine wieder in Gang gebracht werden (Kaffee, Häute, Kakao, ab den 1920er Jahren Erdöl). Dies änderte nichts an jene Elementen, die sich wie rote Fäden durch die Darstellung ziehen: fehlende Agrarreform und fehlendes mittleres Bauerntum, Inkompetenz und Korruption der Eliten, beharrliche Muster von Klientelismus, Caudillismus und Rassismus, auf der anderen Seite die sich aus lokalen, karibischen und globalen Elementen speisende Transkulturationsfähigkeit "von unten" und immer wieder: die Eigenständigkeit der Llanos.

Während die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts durch autoritär-militärische Regime geprägt war, gelang es, 1958 mit dem Punto-Fijo-Abkommen eine lange Phase institutionell-demokratischer Verhältnisse einzuleiten. Dies ließ zusammen mit der steigenden Erdölrente in den 1970er Jahren den Mythos einer stabilen, modernen, sozialstaatlich regulierten und demokratischen Gesellschaft entstehen. Sinkende Erdölpreise, Verschuldung, fehlende Binnenentwicklung und extreme soziale Ungleichheit brachten das Land 1989 an den Rand des Zusammenbruchs. Die Punto-Fijo-Zeit ist heute eine der negativen Folien des chavistischen Diskurses. Zeuske verweist auch auf ihre positiven Folgen: Verwurzelung einer gewissen demokratischen Kultur, Abkehr von militärischer Gewaltherrschaft, gewisse Aufstiegs- und Bildungsmöglichkeiten (unter den Begünstigten hierbei Hugo Chávez).

Der Entwicklung der letzten zehn Jahre widmet Zeuske große Aufmerksamkeit. Die Bolivarische Revolution deutet er als erfolgreiches und gerechtfertigtes Zusammengehen kleinteiliger popularer Bewegungen (Zeuske spricht von "Molekülen") und der Führungsfigur Chávez. Aus welchen Wurzeln und tradierten Formen sich dessen Selbstinszenierungen speisen, arbeitet Zeuske überzeugend heraus. Da er das Tableau der historischen Lasten und kulturellen Repertoires der venezolanischen Gesellschaft zuvor detailreich entwickelt hat, herrscht in diesem gegenwartsbezogenen Abschnitt ein gelassener und unaufgeregter Ton. Hier entwickelt der Text seine volle Stärke. Ohne eine Apologetik Chávez' liefern zu müssen, gelingt es ihm, Art und Weise des in Europa vorherrschenden medialen Diskurses über Venezuela zu beschämen: Zwischen Herablassung, Dämonisierung und dem reflexartigen Populismusvorwurf wird übersehen, worauf die Legitimation dieser Regierung in den Augen der Bevölkerungsmehrheiten beruht. Ob der Aktualität der Ereignisse lädt dieser Abschnitt zu Diskussionen aller Art ein, nicht in allen Punkten muss man mit Zeuske übereinstimmen. Ob z. B. die Selbstbeschreibung des Bolivarismus als genuine Neuerung jenseits von "Reform" und "Revolution" zutrifft (Zeuske nimmt sie durch den Begriff "Reformrevolution" auf), muss fraglich bleiben. Ein systematischer Vergleich mit Bolivien 1952-1956, Kuba ab 1959, Chile 1971-1973, Nikaragua 1979-1989 wäre hier klärend gewesen. Insgesamt sind in diesem Werk jedoch Analyse und Narratio, Geschichte und Gegenwartsbezug sowie politische Passion und kühle Kritik auf eine Art und Weise abgestimmt, dass beides erreicht wird: eine überzeugende und stringente Darstellung der Geschichte Venezuelas und eine dialogische Offenheit im Argument.


Anmerkung:

[1] Michael Zeuske: Insel der Extreme. Kuba im 20. Jahrhundert. Zürich 2004; Michael Zeuske: Schwarze Karibik. Sklaven, Sklavenkultur und Emanzipation. Zürich 2004.

David Mayer