Elke Krasny / Irene Nierhaus (Hgg.): Urbanografien. Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2008, 208 S., ISBN 978-3-496-01394-5, EUR 39,00
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Es dürfte vergleichsweise selten vorkommen, dass wissenschaftliche Publikationen ihren Anfang unter freiem Himmel nehmen. Ebendies trifft jedoch für den vorliegenden Sammelband zu, der auf ein im Dezember 2006 vom Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen veranstaltetes Symposium mit dem Gegenstand "Wege in die Stadt: Urbane Transformationsprozesse und ihre Narrative" zurückgeht. Konsequenterweise machten die Teilnehmer sich am ersten Veranstaltungstag fußläufig auf den Weg durch Bremen und stellten den Vorträgen des Folgetages die empirische Erfahrung voran.
Dieser Auftakt war durchaus programmatisch zu verstehen, denn im Fokus des thematisierten Ansatzes von Stadtforschung stehen Mikrostrukturen und Alltäglichkeiten städtischen Lebens, die nur durch eigene Anschauung, Begehung und Gespräche mit Stadtbewohnern erfahrbar sind. Gebaute und geplante Stadtumwelten, die Interaktion von Administrationen, Organisationen und Individuen sowie Wahrnehmungen, Deutungen und Rückkopplungen bewirken demnach jenen urbanografischen Prozess, der Stadt formiert oder schreibt.
Es ist der Ganzheitlichkeit dieses Ansatzes geschuldet, dass der Sammelband thematisch recht heterogene Beiträge enthält, auch wenn die Autorinnen und Autoren mehrheitlich den Kunst- und Kulturwissenschaften entstammen. Dennoch lassen sich einige Leitlinien herauslesen. So das zentrale Motiv der Transformation des städtischen Raums; hier arbeitet etwa Mitherausgeberin Irene Nierhaus ("Plan und Rand: Urbanografische Figuren zu Stadt und Rand") am Beispiel des Städte- und Wohnungsbaus und der Abbildung städtischen Raums im Film den Dualismus von Planung und Randständigkeit heraus. Robert Temel ("Temporärer Urbanismus. Potenziale begrenzter Zeitlichkeit für die Transformation der Städte") zeigt hingegen die Potenziale von Zwischennutzungen auf, die sich oftmals sehr dynamisch und ohne jede administrative Planung entwickeln.
Ein weiterer Schwerpunkt des Sammelbandes liegt auf dem Aspekt der Wahrnehmung städtischen Raums, auch und insbesondere in Form von Stadtwanderungen. Mitherausgeberin Elke Krasny ("Narrativer Urbanismus oder die Kunst des City-Telling") weist auf alltägliche Erfahrungsfragmente hin, die sich zu einem "kollektiven Geschichtsspeicher" verdichten lassen.
Einen ebenfalls hohen Stellenwert nehmen Künste und Medien ein. Meike Günther ("Shanghai Assemblage. Eine Reise durch Geschichten chinesischer Gegenwartskünstler") legt am Beispiel Shanghais dar, wie Kunst eine alternative Wahrnehmung von Städten eröffnen kann, wie sie ein Reiseführer kaum zu generieren vermag. Viktor Kittlausz ("Urbane(s) Fragen. Auf der Suche nach den Medien des Städtischen") weist hingegen auf die Wechselwirkung zwischen medialen Formen und Stadtwahrnehmung hin.
Aufgrund seiner Transdisziplinarität ist der Band auch für die Geschichtswissenschaft anregend, enthält er doch viele Verweise zu möglichen historischen Untersuchungsansätzen aus dem Kontext der Stadt- und Alltagsgeschichte. Neben dem bereits erwähnten Beitrag von Elke Krasny sei auch auf die von Jeanne van Heeswijk beigesteuerte Dokumentation des Widerstandes von Bewohnern des Rotterdamer Stadtteils Nieuw Crooswijk verwiesen ("Make history, not memory"). Darin dokumentiert sich die konkrete Bedeutung von Stadtteilgeschichte für die Identitätsbildung der Bewohner und die Partizipation an Planungsprozessen.
Somit zeigt der Band verschiedenste kulturwissenschaftliche Ansätze für Fragestellungen und Methodik der Stadtforschung auf. Dies gilt auch hinsichtlich der Alltags- und Urbanitätsgeschichte, wo sich etwa die systematische Analyse von Stadtspaziergängen als Ausweitung von Oral-History-Projekten anbietet. So erweist sich der Beginn des Bremer Symposiums unter freiem Himmel schließlich durchaus als zielführend.
Christian Eiden