Rezension über:

Andrea Kolpatzik: "Die Waden der Nation". Fußballweltmeisterschaft als deutsch-deutscher Erinnerungsort (= Zeitgeschichte - Zeitverständnis; 20), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2009, 144 S., ISBN 978-3-643-10201-0, EUR 19,90
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Bettina Alavi
Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Bettina Alavi: Rezension von: Andrea Kolpatzik: "Die Waden der Nation". Fußballweltmeisterschaft als deutsch-deutscher Erinnerungsort, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/05/16899.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andrea Kolpatzik: "Die Waden der Nation"

Textgröße: A A A

Im Fußballweltmeisterschaftsjahr 2010 werden "Die Waden der Nation" (Titulierung für Michael Ballack während der WM 2006) neue Aufmerksamkeit in den Massenmedien erfahren. Zu erwarten sind mehr oder weniger euphorische Spielkommentare von Radio- und Fernsehmoderatoren, Spielanalysen von Experten wir Günter Netzer in nachbereitenden Fernsehsendungen, begleitende Hintergrundberichte und Analysen in Tageszeitungen und Sportmagazinen, Fan-Blogs im Internet etc. Im deutsch-deutschen Verhältnis wurde der Sport massenmedial auch als Propagandainstrument genutzt, um die Überlegenheit der eigenen Mannschaft als Systemüberlegenheit zu interpretieren. Der Fußball liefert dazu einige Beispiele wie der "legendäre" Spielgewinn der DDR-Mannschaft über den späteren Weltmeister Bundesrepublik bei der Fußballweltmeisterschaft 1974.

Die vorliegende Publikation, die auf einer Staatsexamensarbeit an der Universität Münster basiert, betrachtet diese fußballspezifische massenmediale Aufmerksamkeit in einer engen Fokussierung: Die Sportberichterstattung zu den Fußballweltmeisterschaften 1974, 1990 und 2006 in je drei ostdeutschen (Neues Deutschland, Leipziger Volkszeitung, Berliner Zeitung) und westdeutschen (Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Frankfurter Allgemeine, Bild) Zeitungen wird bezüglich ihrer Bedeutung für die Konstruktion nationaler Identität über den Sport untersucht. Denn - so die zentrale These des Buches - "die Intention der Sportberichterstattung ist der Entwurf kollektiver Identität durch Konstruktion einer Erinnerungsgemeinschaft und die Generierung nationaler Identität." (9) Theoretisch fundiert auf der geschichtsdidaktischen Kategorie der Geschichtskultur als externalisiertes gesellschaftliches Geschichtsbewusstsein arbeitet die Autorin in einer Prozessanalyse, d.h. in einer mit drei qualitativen Einzelfallanalysen der Printberichterstattung kombinierten Längsschnittuntersuchung, heraus, auf welche Erinnerungen und Mythen sich die "Sportnation" stützt. Sie stützt sich dabei auf das kulturwissenschaftliche Konzept der Erinnerungsorte für das die symbolische Bedeutung und die Intentionalität zentral ist und untersucht den ihr vorliegenden Quellenkorpus dementsprechend nach den Kriterien Leistungsbeurteilung, Fremd- und Selbstdefinition, Symbole, Identifikationsfiguren und Popularisierung von sportgeschichtlichen Mythen.

Die Zeitungsberichterstattung über die WM stand - wie die Autorin herausarbeitet - 1974 im Zeichen der scharfen Abgrenzung zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Die DDR-Zeitungen übertrugen in ihrer Berichterstattung die sozialistischen Tugenden Kampfkraft, Willenskraft und Siegeswillen auf "ihr" Mannschaftskollektiv, während die bundesrepublikanischen Spieler als hoch bezahlte Millionäre im Lager des "Klassenfeindes" abgegrenzt wurden. Mit dem Sieg der DDR-Mannschaft über den späteren Weltmeister Bundesrepublik begann die Konstruktion eines spezifisch ostdeutschen Erinnerungsortes, der auch nach 1989 weitergeführt wird. Die bundesrepublikanischen Zeitungen hingegen machten ihren Lesern sowohl mit Einzelspielern wie Franz Beckenbauer als auch mit dem Trainer Helmut Schön ein sportnationales Identifikationsangebot und zeigten die Nichtakzeptanz des ostdeutschen Staates wie z.B. die Bildzeitung, indem sie die DDR konsequent in Anführungszeichen setzte. Die bundesrepublikanische Berichterstattung baute 1974 schon auf einem Erinnerungsort auf, nämlich dem "Wunder von Bern" 1954 als Narration einer rehabilitierten Nation und blendete dabei die Trainertätigkeit Sepp Herbergers im Nationalsozialismus konsequent aus. Die WM-Berichterstattung 1990 stand - wie die Autorin betont - im Zeichen von Verflechtung und Annäherung, in einer Zeit, in der die DDR noch offiziell bestand, die Weichen für die Wiedervereinigung durch die Zwei-plus-vier-Gespräche aber bereits gestellt waren. Dass die DDR-Auswahl die Qualifikation verpasst hatte, kompensierten die ostdeutschen Zeitungen, vor allem das Neue Deutschland, indem der Sowjetunion die Funktion des sozialistischen Botschafters zugeschrieben wurde, der nun stellvertretend den sozialistischen Handlungsstil wie die kollektive Geschlossenheit repräsentierte. Gleichzeitig spiegelte sich in den Zeitungen das geschichtskulturelle Dilemma der DDR, denn einerseits wiesen sie die deutsche Fußballnationalmannschaft als sportnationale "Ihr"-Gruppe aus und differenzierten somit semantisch in Ost- und Westdeutschland, andererseits mussten sie das Adjektiv "deutsch" zulassen, um nicht den Anschluss an die Lebenswirklichkeit ihrer Leser zu verlieren. Diese von der Autorin als Zeichen des beginnenden Revisionsprozesses der ostdeutschen Identität interpretierte Modifikation zeigt sich auch in der Etablierung Franz Beckenbauers als sportnationale Identifikationsfigur in allen Zeitungen. Die westdeutsche Berichterstattung erzeugte darüber hinaus ein sportnationales Kontinuitätsbild, das die ostdeutsche Bevölkerung als Motiv nicht beinhaltete, sondern auf das "Wunder von Bern" als Wendepunkt der internationalen Reintegration der Bundesrepublik und den WM-Titel von 1990 als Überwindung der deutsch-deutschen Teilung rekurrierte.

Auch sechzehn Jahre nach der Wiedervereinigung unterschieden sich die Erinnerungsorte in der ost- und westdeutschen Sportberichterstattung über die WM 2006 voneinander, sodass die Bezeichnung "deutsch-deutsche Erinnerungsorte" noch ihre Berechtigung hatte: Die differente Verwendung des Leipziger Zentralstadions, des deutsch-deutschen Länderspiels von 1974 und des Weltmeistertitels von 1954 sind laut Autorin deutliche Hinweise auf die immer noch geteilte deutsch-deutsche Geschichtskultur. Gleichwohl kann in der Berichterstattung gleichzeitig eine übergeordnete gesamtdeutsche Identität nachgewiesen werden, die sich an gemeinsamen Fremd- und Selbstbildern sowie gemeinsamen Identifikationsfiguren (Michael Ballack - "Die Waden der Nation") und Mythen festmacht. Diese Mythen bestehen beispielsweise in der Konstruktion einer durch Bundestrainer und Mannschaft personifizierten deutschen Erfolgsgeschichte von 1954, 1974, 1990, in die auch die WM 2006 als gemeinsame Vergangenheit eingeordnet wurde.

Die Kritik an dieser Publikation wird hauptsächlich auf den Umstand zurückgeführt, dass es sich um eine - wenn auch für dieses "Genre" herausragende - Staatsexamensarbeit handelt: Thematisch eng begrenzt, um in knapper Zeit inhaltlich und methodisch gut bewältigt zu werden. So bleiben - trotz der in dieser Besprechung deutlich gewordenen einleuchtenden Ergebnisse - weitergehende Fragen: Wäre es nicht sinnvoll gewesen die Basis der Sportberichterstattung zu verbreitern, indem auch Radio- oder Fernsehübertragungen von Spielen oder aber Sportmagazine wie der "Kicker" mit einbezogen werden? Wie ist die Wirksamkeit der Sportberichterstattung bei dem unterschiedlichen Adressatenkreis der ausgewählten Zeitungen (von Bild zum Neuen Deutschland)? Kann eine solche Untersuchung über rein männlich konstituierte Erinnerungsorte ohne den Einbezug der Genderthematik vonstattengehen? Kam in der Berichterstattung zumal der WM von 2006 das Phänomen der geschlechterübergreifenden Euphorie nicht vor, die sich in schwarz-rot-goldenen Girlanden oder Perücken ausdrückte? - Aber vielleicht sind diese kritischen Nachfragen schon Gegenstand einer erweiternden und vertiefenden Dissertation.

Bettina Alavi