Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2009, 1343 S., ISBN 978-3-406-59235-5, EUR 38,00
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Die Geschichte des Westens ist eine Konstruktion der Griechen. Der Vater der Geschichtsschreibung, Herodot aus Halikarnass, hat sie in seiner Darstellung der Perserkriege begründet. Die "großen und wunderbaren Taten" der Hellenen und der Nichtgriechen wollte er im ausgehenden fünften vorchristlichen Jahrhundert festhalten, damit sie nicht in Vergessenheit gerieten. Er kanonisierte die Wahrnehmung der hellenisch-persischen Konfrontation als Kampf zwischen Freiheit und Knechtschaft, Demokratie und Despotismus.
Den berühmten Vorgänger erwähnt Winkler in seinem monumentalen Opus mit keinem Wort. Auf 1200 Seiten wird eine politische Geschichte des Westens entfaltet, die von einem hegelianisch zu nennenden Optimismus getragen ist und die Botschaft verkündet, dass über die Jahrhunderte Europa und Nordamerika zu einer Wertegemeinschaft geworden seien, die durch politische Partizipation, Bürger- und Menschenrechte, Gewaltenteilung und die Verteidigung der Freiheit zusammengehalten werde. Konsequent blendet Winkler alles aus, was sich nicht zu dieser Meistererzählung fügt: Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Entwicklungen werden nur en passant abgehandelt, Genderstudies interessieren nicht, Kultur ist ein Fremdwort und Ideengeschichte bleibt auf die politische Theorie beschränkt. Ob das für eine moderne "Problem- und Diskursgeschichte" reicht (vgl. 22), kann bezweifelt werden. Doch überzeugend und differenzierend arbeitet Winkler das "normative Projekt des Westens" heraus, das die politischen Entwicklungen in Europa ebenso wie in Nordamerika seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bestimmte: "die amerikanischen und die französischen Menschenrechtserklärungen von 1776 und 1789 und das Bekenntnis zur Volkssouveränität, zur Gewaltenteilung und zur Herrschaft des Rechts als Grundlage einer staatlichen Ordnung, die sich auf ebendiese Rechte beruft." (1189)
Der Geschichte von der Amerikanischen und der Französischen Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges sind fast 1000 Seiten gewidmet, mithin fünf Sechstel des Buches. Hier schildert Winkler souverän die Demokratisierung der westlichen Nationen, akzentuiert Unterschiede und Gemeinsamkeiten, umreißt Rückschläge, bestimmt Ungleichzeitigkeiten und setzt Zäsuren. Die Vorgeschichte findet hingegen auf gut zweihundert Seiten statt: Die Antike ist auf knapp zwanzig Seiten abgehandelt, das Jahr 800 ist bereits auf Seite 43 erreicht, und 80 Seiten später gehört Luther schon der Vergangenheit an. Es wäre kleinlich, aus althistorischer Perspektive offenkundige Versäumnisse, Fehler in der Zitation antiker Quellen und manifeste Lücken in der Literaturkenntnis aufzuzählen; vielmehr soll im Folgenden der Nachweis erbracht werden, dass Winkler aufgrund seiner erkenntnisleitenden Prämissen die antike Evidenz selektiv wahrnimmt und deshalb die erste Wegstrecke, die der "Westen" auf seinem Weg zu Freiheit und Gerechtigkeit, zu Bürger- und Menschenrechten zurücklegte, falsch vermisst.
"Am Anfang war ein Glaube: der Glaube an einen Gott" (25; Hervorhebung im Original), heißt es einleitend. Der Zugriff auf die Kulturen der Alten Welt erfolgt ausschließlich über das Konzept des Monotheismus, dessen Ursprünge Winkler nach Ägypten und Israel verlegt. Flugs wird aus dem jüdisch-alttestamentlichen Monotheismus "eine Metamorphose des ägyptischen" (25), d.h. die Aton-Religion des Pharao Amenophis IV. ("Echnaton") aus dem 14. Jahrhundert v.Chr. wird zum Vorläufer des mosaischen Glaubens. Dieser 'orientalische' Monotheismus wird als "Kulturfortschritt, ja als Kulturrevolution" (28) apostrophiert und mithilfe von Carl Schmitt zu einer "politischen Theologie". Der jüdische Monotheismus im Besonderen soll "in der Tat einen gewaltigen Schub in Richtung Rationalisierung, Zivilisierung und Intellektualisierung" (28) bedeutet haben. Mit Jan Assmann weist Winkler zugleich darauf hin, dass es indes nicht nur zu einer Säkularisierung theologischer Begriffe, sondern auch zu einer Theologisierung politischer Konzepte gekommen sei. Kaum hat man die Transformation von Aton zu Jahwe bewältigt, steht die nächste Kulturrevolution vor der Tür: der Aufstieg des Christentums. Für diese Einschätzung ist Hegel der Kronzeuge. Doch der Berliner Philosoph übersah die im Neuen Testament grundgelegte "Gegenüberstellung von Gott und Kaiser" (34), von sacerdotium und imperium, die die christliche Grundlage für die künftige Gewaltenteilung war, welche jedoch "erst rund tausend Jahre später vollzogen" wurde (35). Die Christen, die sich notgedrungen im Hier und Jetzt einrichten mussten, da die Wiederkehr des Messias auf sich warten ließ, verbanden Monotheismus und Monarchie, wie Winkler dann im Anschluss an Erik Peterson ausführt. Aus dem Imperium Romanum wurde ein Imperium Christianum, das unter dem Ansturm der Völkerwanderung in eine westliche und östliche Hälfte zerbrach: Hier wurde die Trennung von weltlicher und kirchlicher Gewalt theologisch festgeschrieben, dort fand das "konstantinische Staatskirchentum" (37) in "der Unterordnung der geistlichen unter die weltliche Gewalt" (39) seine konsequente Fortentwicklung. Das Ende der Antike bezeichnet "der endgültige Bruch zwischen dem byzantinischen Osten und dem römisch geprägten Westen", der - nach Henri Pirenne - "nicht ohne die Expansion des Islam" zu erklären ist (42).
In dieser faszinierenden Assoziationskette bleibt manches hypothetisch. Winkler weiß aus seinem Studium der Forschungsliteratur, dass der ägyptische Monotheismus nur "eine Episode" war (vgl. 25), da er sich nicht gegen die Verehrung Amons durchzusetzen vermochte. Dennoch verknüpft er den solaren Monotheismus Echnatons mit dem Jahwismus der jüdischen Bibel, dessen historische Genese und religiöse Manifestation höchst kontrovers sind. Die Herrschertheologie des frühen Christentums, das Winkler treffend als "religiösen Schmelztiegel" charakterisiert (30), rückt Kaiser und Gott wesentlich näher, als Winkler wahrhaben will; die klare dogmatische Scheidung zwischen göttlichem Kaiser und christlichem Herrscher war ein mühsames Unterfangen. Die Disjunktion zwischen der östlichen und westlichen Hälfte des Mittelmeerraumes war nicht nur das Ergebnis unterschiedlicher politischer Theologien, sondern anhaltender Differenzen über fundamentale Fragen der Christologie.
Doch entscheidend ist ein anderer Einwand: Wenn man sich auf die (keineswegs neue) Hypothese einlässt, dass am Anfang des Westens ein östlicher Monotheismus gestanden habe, dann sind nicht nur Rationalismus, Zivilisierung und Intellektualisierung als Folgen herauszustellen, sondern auch Intoleranz, Ausgrenzung und Verfolgung. Denn der Glaube an den einen Gott schied sehr genau zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Orthodoxie und Häresie. Der Ausschließlichkeitsanspruch der christlichen Botschaft und die Notwendigkeit einer normativen Dogmatik grenzten Juden, Heiden und Häretiker aus, die jetzt als Gottesfeinde wahrgenommen wurden. Infolge der Überzeugung, dass das individuelle Heil allein vom rechten Glauben an Jesus und seine Botschaft abhinge, musste sowohl zwischen Christen und Nichtchristen als auch zwischen Rechtgläubigen und Ketzern differenziert werden.
Hier unterschied sich das Christentum radikal von polytheistischen Praktiken. Im Bereich von Kultus und Religion gab es in der vorchristlichen Antike, von wenigen Ausnahmen, etwa den Orphikern, abgesehen, keine dogmatisch geschlossenen Lehrsysteme, die universale Geltung beanspruchten und 'Wahrheit' scharf von 'Irrlehre' abgrenzten. Die nichtchristliche Lehre vom Göttlichen war weder normativ noch konfessorisch und der Glaube war undogmatisch. In der heidnisch-antiken Tradition wurde der religiöse Grundkonsens durch kultische Differenz nicht infrage gestellt. Der philosophische Diskurs über die Wahrheit war darüber hinaus nicht religiös determiniert; also berief man sich in den Auseinandersetzungen nicht auf einen gegebenen, nicht zu hinterfragenden Besitzstand an orthodoxer Lehre, sondern präferierte den vernunftgeleiteten Dialog. Der Streit der heidnischen Philosophen, so notierte bereits Ephraem der Syrer, hatte für die Welt keineswegs dieselben - katastrophalen - Folgen wie der Konflikt um die ousía des Gottessohnes, der als Arianismusstreit in die Geschichte eingegangen ist (Ephr. hymn. de fide 39, 3 = CSCO 155/Syr. 74,106).
Winkler blendet für seine "Geschichte des Westens" konsequent die Vielfalt der antiken Welt aus. Alles wird dem Leitthema, der Entstehung des Westens aus dem Geist des Monotheismus, untergeordnet. Die Darstellung kommt ohne die griechische Polis und die römische Republik aus. Die 'klassische' Antike ist nur in den (fast durchweg vorzüglichen) rezeptionsgeschichtlichen Exkursen besonders zur neuzeitlichen Verfassungstheorie greifbar. So wird implicite einem konstruktivistischen Verständnis der Antike Vorschub geleistet: Griechenland und Rom existieren nur in den jeweiligen Appropriationen und Transformationen der Neuzeit. Nach der Adäquatheit der Rezeptionsformen kann schon deshalb nicht gefragt werden, weil die historischen Grundlagen nicht gelegt werden. Tugenddiskurse und Mischverfassungsdebatten haben keinen Unterbau, die Aneignung der antiken Philosophie erscheint beliebig, und die antiken exempla für normatives Handeln bleiben blass. Statt historischer Differenzierung findet sich moralische Wertung: "Als sich die Männer des Konvents, die Girondisten nicht weniger als die Jakobiner, zu wiedergeborenen Römern stilisierten und mit den beiden Volkstribunen aus der Familie der Gracchen, mit dem Ankläger der Anhänger des Verschwörers Catilina, dem jüngeren Cato, oder mit dem Cäsarenmörder [sic] Brutus verglichen, sahen sie geflissentlich darüber hinweg, daß die römische Republik das war, was die Französische Republik nicht sein wollte: eine Sklavenhaltergesellschaft." (364)
Damit nicht genug. Modelle politischer Teilhabe und demokratischer Gleichheit, Vorstellungen republikanischer und imperialer Ordnung, Konzepte bundesstaatlicher Partizipation und monarchischer Repräsentation müssen in ihrem historischen Kontext rekonstruiert werden, bevor sie - in einem zweiten Schritt - in ihren rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhängen behandelt werden können. Winkler interessiert sich indes nur für die Wirkungsgeschichte. Doch Antike und moderne Freiheit sind aufeinander zu beziehen, wie dies Christian Meier [1] oder Wilfried Nippel [2] kürzlich überzeugend vorgeführt haben.
Winkler betont, dass die Geschichte des Westens "keine Geschichte des ununterbrochenen Fortschritts in Richtung auf mehr Freiheit" sei (20; Hervorhebung im Original). Auch retardierende Elemente, gescheiterte Reformen und Rückschläge werden thematisiert. Dennoch verkündet Winkler die westliche Erfolgsgeschichte, die er im Ägypten des zweiten Jahrtausends vor Christus beginnen lässt und die sich als das gelungene Projekt der Umsetzung von Freiheit liest. Sklaverei, koloniale Ausbeutung, Antijudaismus und Völkermord sind nach dieser Lesart keine charakteristischen Elemente der westlichen politischen Theorie und Zivilisation, sondern schlicht Aberrationen, die die Entstehung "einer selbstkritischen politischen Zivilgesellschaft und einer pluralistischen Zivilgesellschaft" (23) letztlich nicht verhindern konnten. Aber die Ausgrenzung von Minoritäten und die Verfolgung Andersgläubiger sind keine akzidentiellen Entwicklungen der okzidentalen Vergangenheit; denn "von dem archimedischen Punkt" (Jan Assmann) der christlichen Offenbarung aus wurde die Welt in Freund und Feind geschieden.
Deutschlands "langer Weg nach Westen", den Winkler eindrücklich nach der Wiedervereinigung beschrieb, findet nunmehr seine europäische Fortsetzung. "Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens" (18) war die Botschaft seiner Geschichte Deutschlands. Die deutsche Erfolgsgeschichte, als deren größter Triumph das Epochenjahr 1989 gilt, wird damit europäisiert; die retrospektive Traditionskonstruktion macht den "Westen" zum einem transnationalen Leitbegriff. Es bleibt zu hoffen, dass das Vertrauen in den Prozess der Rationalisierung, Säkularisierung und Zivilisierung nicht durch die ökonomischen Konvulsionen, politischen Krisen und religiösen Konflikte des 21. Jahrhunderts Schaden nimmt. Historiografisch scheint Winkler eher in die zukunftsfrohe Aufbruchstimmung der Nach-Wende-Ära zu verweisen als in die mit vielfältigen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und religiösen Problemen beladene Zukunft. Man muss angesichts der aktuellen Weltlage kein Prophet sein, um absehen zu können, dass das Konstrukt eines "westlichen" Raumes, das unterschiedliche Nationen diesseits und jenseits des Atlantiks auf der Basis einer gemeinsamen Werteordnung integriert, höchst fragil ist. Winkler wird darüber im zweiten Band seiner "Geschichte des Westens" sicherlich nachdenken. Wir erwarten ihn mit Spannung.
Anmerkungen:
[1] Christian Meier: Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge - Anfang Europas?, München 2009.
[2] Wilfried Nippel: Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit, Frankfurt a.M. 2008.
Stefan Rebenich