Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2009, 1343 S., ISBN 978-3-406-59235-5, EUR 38,00
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Die opera magna - oder sollte man vielleicht doch eher von opera maxima sprechen? - Heinrich August Winklers stellen an das Stehvermögen der Leser erhebliche Anforderungen. 1300 Seiten Text: Da müssen dann schon viele Bahnfahrten, Flüge und Mußestunden zusammenkommen, um auch nur einigermaßen durchzukommen. Auf der anderen Seite wächst schon nach wenigen Dutzend Seiten die Hochachtung vor dem Mut des Verfassers, sich auf ein so gewaltiges Unternehmen einzulassen, unter einer bestimmten Fragestellung die gesamte Geschichte des "Alten Kontinents" seit den Anfängen seiner Zivilisation zu durchleuchten.
Die Herausgeber der sehepunkte haben sich in diesem Fall für das Modell entschieden, Experten für die verschiedenen Epochen - denn das Buch spannt sich von der Antike bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs! - über ihren jeweiligen zeitlichen "Sprengel" berichten zu lassen; ich muss gestehen, dass ich das gewaltige Buch, das sich schon allein von seinem Gewicht her nicht zur Lektüre vor dem Einschlafen eignet, auch nicht in allen Teilen mit der Akribie und kritischen Distanz gelesen zu haben, die ihm angemessen wäre. Mir hat man die Frühe Neuzeit zugewiesen, die ich, da hier derzeit einer meiner Forschungsschwerpunkte liegt, mehr oder weniger eigenmächtig bis um die Zeit des Wiener Kongresses verlängert habe.
Winkler, dessen vor zehn Jahren erschienener nationalstaatlich konzipierter "Langer Weg nach Westen" ja zu einem ausgesprochenen Bestseller im Bereich des Sachbuchs geworden ist, an den die vorliegende Studie selbstredend in mancher Hinsicht anknüpft und anschließt, geht von der Frage aus, ob nicht auch die Nachbarn Deutschlands ihre langen Wege nach Westen hinter sich zu bringen hatten, die sich von denen der Deutschen gar nicht so grundlegend unterschieden. Insofern ist dies nun eine dezidiert "europäische" - im Sinn von "westeuropäische" - Perspektive, die Winkler wählt, und man muss das sogar noch etwas stärker einschränken, weil, wenigstens in "meinem" Zeitfenster, die iberischen und italienischen Staaten, aber auch die Niederlande, von Skandinavien ganz zu schweigen, nur eine untergeordnete Rolle spielen. Das soll, wiewohl das Zurücktreten der Niederlande, ihres Staatsmodells, ihrer Staatstheorie, der epocheprägenden Kraft ihres Hochschulwesens wegen auffällig ist, nicht ausgestellt werden, aber der Fokus liegt eben doch sehr stark auf den beiden westeuropäischen "Modellstaaten" Frankreich und England/Großbritannien.
Der Ansatz, nach der europäischen - bzw. auch der atlantischen - Konzeption des Westens, also einem unverwechselbaren Ordnungsmodell auf einer und derselben geistigen Grundlage, zu fragen, leitet sich nicht zuletzt aus der globalen Perspektive ab, in der, zustimmend-affirmativ oder aber (häufiger!) abwertend-aggressiv, der "Westen" zu einem Synonym für eine besonders ausgezeichnete Wertegemeinschaft oder aber zu einem Menetekel für das Böse schlechthin stilisiert wird. Den "Westen" sieht Winkler im Wesentlichen als Modell seit den Revolutionen von 1776 und 1789 "ausformuliert" (21), thematisiert aber natürlich nicht nur seine Durchsetzung, sondern vor allem auch die Ungleichzeitigkeit seiner Verwirklichung im Sinn einer pluralistischen Zivilgesellschaft.
Ich habe die Abschnitte zur antiken Welt und zum Mittelalter mit Gewinn gelesen, in denen eins vielleicht noch nicht so deutlich wird wie in den Abschnitten über die (Frühe) Neuzeit, dass sich nämlich "der Westen" für Winkler vor allem aus der und über die Verfassungs- und die politische Ideengeschichte definiert und konstituiert. Von "westlicher" Kunst, von "westlicher" Literatur, von den Spezifika der "westlichen" Musik erfährt man (231) relativ wenig. Als jemand, der selbst stark vom Staat, von den Institutionen und von der Staatstheorie her denkt, stelle ich das nicht aus, es widerspricht aber ein wenig den vom cultural turn angestoßenen Ansätzen und wird deswegen auch nicht ohne Widerspruch bleiben.
Winkler ist, wie allgemein bekannt, kein genuiner Frühneuzeithistoriker, er hat sich aber trotzdem in höchst anerkennenswerter Weise in die einschlägige Forschung eingearbeitet und ein Panorama entworfen, das ohne Abstriche eindrucksvoll ist. Die erheblichen Unterschiede zwischen "Ost" und "West" seit dem ausgehenden Mittelalter werden auf die theologischen Differenzen zwischen römischer Kirche und Orthodoxie und dann auf den säkularen Antagonismus zum Islam (in Gestalt des Osmanischen Reiches) zurückgeführt, wobei der "Westen" sich dadurch zunehmend ausdifferenzierte, dass die Nationalstaaten sich nicht mehr an Rom, sondern nur noch an ihrer "Staatsräson" orientierten. Renaissance und Humanismus - und in ihrem Gefolge die Reformation - waren nicht nur für ein radikal neues Weltbild, sondern auch für ein neues Menschenbild verantwortlich, für das ein größeres Maß an Freiheit, an elementaren Individualrechten charakteristisch war.
Die Frühe Neuzeit im engeren Sinn behandelt Winkler unter der griffigen Alliteration "Von Wittenberg nach Washington" im Kapitel II ("Der alte und der neue Westen") auf gut 200 Seiten. Das mag auf den ersten Blick proportional angemessen erscheinen, relativiert sich dann aber doch etwas, wenn man sich vergegenwärtigt, dass davon gut 50 Seiten allein der Amerikanischen Revolution gewidmet sind. Immerhin, es ist genug Raum, um die Elemente aufzuspüren, die "den Westen" in Winklers Augen ausmachten: Das grundsätzlich auf Selbstbestimmung angelegte Menschenbild der Reformation, die Entwicklung eines Widerstandsrechts, eines Völkerrechts im modernen Verständnis des Begriffs und das Habeas-Corpus-Motiv, die staatstheoretischen Entwürfe, die auf ein Mehr an Toleranz, an Partizipation, an Selbstverwirklichung und Emanzipation abzielten. Gerade hier, in der subtilen Interpretation der "Klassiker" des Staatsdenkens, die alle wirklich noch einmal gelesen und nicht nur aus der Literatur referiert wurden, liegt eine besondere Stärke Winklers. Die Schlüsselrolle der Aufklärung wird bei alledem mit gutem Grund besonders hervorgehoben; erst sie "ermöglichte ein neues Gefühl von Gemeinsamkeit jenseits der Unterschiede der Religion und der Nation: das der Verpflichtung gegenüber den Geboten, auf die sich alle vernunftbegabten Wesen verständigen konnten." (230) Das Buch verdeutlicht aber zugleich auch, dass die kontinentalen Staaten, bei aller Fundamentalkritik an ihren Strukturen, zu wirklichem gesellschaftlichem Wandel nicht in der Lage waren - die Impulse mussten von jenseits des Wassers - von Großbritannien (Industrielle Revolution) und von Nordamerika - ausgehen.
Nennenswerte oder gar gravierende Fehler - seien es solche sachlicher Art, seien es solche der Interpretation - habe ich in dem der Frühen Neuzeit gewidmeten Kapitel nicht entdecken können. Das gilt auch für das sich anschließende nächste Großkapitel ("Revolution und Expansion: 1789-1850"), in dem der Teilabschnitt über die Französische Revolution nun geradezu den Charakter einer kleinen Monografie annimmt. Über den vielen Kehrtwendungen der Revolution wird der mit der Materie nicht so intim vertraute Leser vielleicht zwar ab und zu den roten Faden - die Republikanisierung eines monarchischen Staatswesens, der Übergang zu geschriebenen Verfassungen mit Grundrechtekatalogen, die Trennung von Staat und Kirche usw. - etwas verlieren, aber auch hier gilt: nennenswerte oder gravierende Ausstellungen sind nicht anzumerken.
Auf einen Aspekt will ich aber doch abheben, auch wenn ihm sicher keine zentrale Bedeutung zukommt: Im Bündel der sogenannten Stein-Hardenberg'schen Reformen scheint mir Steins eigentlich epochemachendes Werk, die Städtereform und damit die Idee der kommunalen Selbstverwaltung, zu kurz gekommen zu sein. Gewiss, sie wird angesprochen (396), aber doch eher beiläufig und nicht in dem Sinn, dass es sich um ein zentral "westliches" Gesellschaftsmodell handelte - der Rückgriff auf die Idee und Praxis der kommunalen Selbstverwaltung in etlichen Staaten des ehemaligen "Ostblocks" legte diese Interpretation geradezu zwingend nahe.
Winkler ist sicher wieder ein großer Wurf gelungen, der seine Leser finden wird, wiewohl er an deren Lesebereitschaft und Lesefähigkeit erhebliche Anforderungen stellt. Schon in den von mir vorrangig zu betrachtenden Abschnitten wären gewisse Straffungen vorstellbar gewesen, und mit einiger Wahrscheinlichkeit gilt das dann auch für die Kapitel zum 19. und frühen 20. Jahrhundert. Gleichwohl: Die Lesebereitschaft lässt kaum nach, weil Winkler ebenso elegant wie eindringlich zu formulieren versteht und das Lesen dann alles in allem eher zu einem Vergnügen wird, als dass es zu einer Last würde.
Heinz Duchhardt