Stefan Rinke: Revolutionen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit 1760-1830, München: C.H.Beck 2010, 392 S., ISBN 978-3-406-60142-2, EUR 29,95
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In dieses Jahr fällt das 200. Jubiläum von Ereignissen, die in vielen lateinamerikanischen Staaten als Beginn der Unabhängigkeit und damit als Anfang der nationalen Geschichte gelten. Das mag Stefan Rinke dazu inspiriert haben, gerade jetzt ein Buch zum Thema zu schreiben; vielleicht waren aber auch nur die Schwierigkeiten ausschlaggebend, die jedem begegnen, der sich in deutscher Sprache oder abseits der von mehr oder weniger aktuellen geschichtspolitischen Debatten in den aus den Revolutionen hervorgegangenen Staaten selbst dominierten National-Historiographien über die Geschichte Lateinamerikas in der "Sattelzeit" informieren möchte. Entstanden ist ein überaus ansprechend illustriertes, klar geschriebenes Buch in der besten Tradition analytisch-narrativer Ereignisgeschichtsschreibung, das nicht nur sein eigentliches Thema souverän behandelt, sondern ein neues Standardwerk zum Zeitalter der atlantischen Revolutionen in kolonialen Kontexten insgesamt darstellt.
Rinkes Erzählung setzt im 17. Jahrhundert mit der beginnenden - scheinbaren - Krise des spanischen Weltreichs ein. In knapper Form führt er in die verschiedenen Versuche der Wirtschafts- und Politikreform ein und diskutiert den Wandel in der Bewertung spanischer Macht in der Historiographie. Rinke macht einerseits deutlich, dass eine Reihe von Entwicklungen Spannungen zwischen Metropole und Kolonien schürten - Dispute über die Privilegierung von Alt-Spaniern gegenüber den im südlichen Amerika aufgewachsenen "Kreolen" bei der Vergabe öffentlicher Ämter, Auseinandersetzungen über die Steuerlast und die Organisation des Handels, Debatten über die Natur und Ausgestaltung einer gerechten Verfassung. In allen Bereichen konnten Ende des 18. Jahrhunderts vor allem die (in ihrer Revolution von Spanien unterstützten) USA als mögliches Vorbild für eine politische und ökonomische Emanzipation unter weitgehender Bewahrung der sozialen Ordnung betrachtet werden - wenn auch nur unter Hintanstellung der katholischen Religion. Er zeigt andererseits auf, dass trotz zahlreicher Unruhen keine größere politische Bewegung in Ibero-Amerika vor 1800 den Versuch unternahm, völlige Unabhängigkeit vom Mutterland zu erlangen, dass mithin der Schritt von der Rebellion zur Revolution eben nicht gegangen wurde.
Diese Position wurde durch die Erfahrung der ersten erfolgreichen Revolution im spanischen Macht- und Einflussbereich zunächst nachdrücklich bestätigt. Die Revolution in der französischen Karibik-Kolonie St. Domingue, die erste Revolution, die Rinke ausführlich behandelt, begann ebenfalls als Autonomie-orientierte Bewegung. Mit dem Aufstand der versklavten Bevölkerungsmehrheit gegen die Plantagenbesitzer und den immer härter geführten Kriegen im französischen St. Domingue und im auf der gleichen Insel gelegenen spanischen Santo Domingo, an deren Ende die Emanzipation der Sklaven und die Unabhängigkeit Haitis stand, wurde deutlich, dass unter mittel- und südamerikanischen Bedingungen, also in Ländern, in denen eine kleine europäische oder kreolische Führungsschicht über eine Bevölkerungsmehrheit aus Indigenen und Afro-Amerikanern herrschte, politische Autonomie und sozialer Umsturz nur schwer auseinander zu halten waren. Wer die soziale Ordnung bewahren wollte, tat daher gut daran, sich an der metropolitanen politischen Ordnung und an der Theorie monarchischer, zumindest aber ständisch differenzierter Herrschaft zu orientieren - wobei in Ibero-Amerika ständische und ethnische Zuschreibungen meistens zusammenfielen.
Dass diese Zurückhaltung gegenüber radikalem Wandel schwand, ergab sich aus Ereignissen in der Metropole. Genau wie in Haiti die Französische Revolution die Kette von Ereignissen ins Rollen gebracht hatte, die mit der Unabhängigkeit endete, so warfen der französische Einmarsch in Spanien, die Abdankung Karls IV. und die Absetzung Ferdinands VII. in den Kolonien die Machtfrage auf. Die Wahlen zu den am Schluss in Cádiz tagenden Cortes, die Auseinandersetzungen über die Vertretung der Kolonien sowie die Notwendigkeit, sich zwischen Napoleons Bruder "José" und Ferdinand zu entscheiden schufen ein Machtvakuum, das in unterschiedlicher Weise gefüllt werden konnte und wurde. Dabei spielte im spanischen Imperium die Vorstellung eine gewichtige Rolle, dass im Falle der Vakanz des Thrones die Herrschaftsgewalt ans Volk zurückfalle, das nun die Möglichkeit erhalte, sich autonom zu organisieren.
Rinke unterscheidet in seiner Darstellung die Frühphase der Autonomiebewegung zwischen 1810 und 1816 von der Ära des Siegs der Unabhängigkeit zwischen 1816 und 1830. Die Zäsur ist klar: Während in der ersten Phase Unsicherheit über die Machtverteilung Freiräume für Konflikte innerhalb lokaler Eliten schuf, die sich teilweise auf breitere Teile der Bevölkerung stützen konnten und zumal in Mexiko und Peru sozialrevolutionären Bewegungen Auftrieb gaben, die jedoch rasch wieder zusammenbrachen, war nach 1816 klar, dass die spanische Krone eine Rückkehr zum absolutistischen Regiment alten Stils und damit eine Unterordnung der Kolonien unter die wirtschaftlichen Interessen der spanischen Krone forderte. Insofern war die Bewahrung der seit 1810 ausgebauten Autonomie und der bislang erreichten Herrschaftsbeteiligung der kreolischen Eliten nur noch durch die Unabhängigkeit denkbar. Die unterschiedlichen Kräfteverhältnisse zwischen Monarchisten und Republikanern in den verschiedenen Regionen sowie die divergierenden Erfahrungen vor 1816 sorgten dafür, dass die Entscheidung gegen Spanien früher oder später (oder, wie im Falle Kubas, gar nicht) fiel. Wo die Frage lange in der Schwebe blieb, erwies sich die Revolution in Spanien selbst als entscheidender Wendepunkt.
Rinkes analytisches Interesse gilt vor allem den wechselnden Beziehungen zwischen politischen und sozialen Fragen, konkret: die Haltung der kreolischen Eliten zur Sklaverei und zu ethnischer Diskriminierung und die Rolle sozial breit gefächerter Massenbewegung in den Unabhängigkeitsbewegungen. Die verschiedenen Haltungen und Konstellationen konkretisiert er zugleich an unterschiedlichen Revolutions- und Revolutionärstypen: Francisco da Miranda, Miguel Hidalgo, Simón Bolίvar und José de San Martίn. Für diese Protagonisten kontrastiert er biographische Realitäten (einschließlich politischen Scheiterns) ausführlich mit späteren Mythisierungen.
Der letzte erzählende Abschnitt des Buches widmet sich der wesentlich ruhiger verlaufenden Geschichte Brasiliens: Im Gegensatz zum spanischen Machtvakuum stand dort der Umzug von Monarch und Hof nach Südamerika, um dem napoleonischen Angriff zu entgehen. Insofern bestanden die politischen Schwierigkeiten nach 1815 eher darin, Portugal von der Legitimität des Fluchtmonarchen zu überzeugen, als darin, die Macht der Krone in den Kolonien zu sichern. Insofern stand am Ende der Geschichte die Unabhängigkeit Brasiliens unter derselben Dynastie, die sich trotz sozialer Spannungen zunächst als erfolgreicher erweisen sollte als die post-spanischen Nationalstaaten.
Mittelfristig scheiterten die Ibero-Amerikanischen Staaten alle am Versuch, so gut oder besser zu operieren als die USA oder die postrevolutionären Staaten Europas. Verfassungen und Regierungen lösten sich vielerorts in rascher Folge ab, die versprochene Gleichheit der ethnischen und sozialen Gruppen kam nicht zustande, verlustreiche Kriege zwischen den neuen Nationalstaaten forderten viele Opfer und belasteten die durch die Wirren der Unabhängigkeitsphase ohnehin stark dezimierten öffentlichen Haushalte. An die Stelle liberaler oder demokratischer Verfassungen trat oft ein Personenkult um die Figur eines Führers oder Befreiers, der bald zum Diktator mutierte. Woran lag das? Rinke betont die Schwierigkeit des unvermittelten, letztlich von außen aufgezwungenen Übergangs von der Treue gegenüber einem Monarchen zu einer abstrakten Verfassungslogik; das Scheitern der Versprechungen ethnischer Gleichheit an den Realitäten fortbestehender ökonomischer Differenzierung und Diskriminierung; die Verarmung Südamerikas durch den Rückgang der Edelmetallförderung und spärliche Investitionen in dysfunktionale, instabile Staaten; schließlich die regional sehr unterschiedlichen Folgen des neuen Freihandelsregimes, von dem die Küstenregionen stark profitierten, während die Binnenregionen relativ gesehen weiter zurückfielen. Dem standen partielle Erfolge gegenüber: die Abschaffung von Sklavenhandel und meist auch der Sklaverei; die Ausweitung politischer Partizipation; die gelegentliche Stabilisierung liberaler Verfassungen - und die Zukunftsaussichten. "Was blieb, war jedoch das Versprechen der Revolution, und das war nicht wenig." (315). Ein sehr schönes Buch über eine faszinierende Epoche, deren Folgen immer noch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Mittel- und Südamerika in entscheidender Weise prägen, das zugleich belegt, dass narrative Geschichtsschreibung kein anglo-amerikanisches Monopol ist.
Andreas Fahrmeir