Renate Schulze: Justus Henning Böhmer und die Dissertationen seiner Schüler. Bausteine des Ius Ecclesiasticum Protestantium (= Jus Ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und zum Staatskirchenrecht; Bd. 90), Tübingen: Mohr Siebeck 2009, X + 213 S., ISBN 978-3-16-149962-3, EUR 49,00
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Seit Daniel Nettelbladt (1719-1791) unterscheidet man drei klassische Theorien, mit deren Hilfe die staatskirchenrechtlichen Konzeptionen im 17. und 18. Jahrhundert beschrieben werden: Episkopalismus, Territorialismus und Kollegialismus. Wenngleich der historische Nutzen des Dreierschemas zur ersten Sondierung keineswegs in Abrede gestellt werden soll, so hat die neuere Forschung doch zu einer differenzierteren Sicht geraten (Martin Heckel, Klaus Schlaich, Christoph Link). Aus inhaltlicher und zeitlicher Sicht ist eine randscharfe Trennung kaum möglich. Angesichts der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Begründungsmodelle des landesherrlichen Kirchenregimentes in Mischformen und in Früh- und Spätphasen erscheint es daher sinnvoll, vom gängigen Zuordnungssystem einmal Abstand zu nehmen und die spezifischen Eigentümlichkeiten und Leistungen der jeweiligen Vertreter im Vergleich zueinander zum Vorschein zu bringen, um so zu einem detaillierteren Bild des Staats- und Kirchenrechts in der Frühaufklärung zu gelangen.
Die von Michael Stolleis, ehemaligem Direktor am Frankfurter Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, betreute Dissertation und Monographie von Renate Schulze leistet hierzu einen Forschungsbeitrag, indem sie das fünfbändige Hauptwerk 'Ius Ecclesiasticum Protestantium' (1714-1736) von Justus Henning Böhmer (1674-1749) untersucht und es vor dem Hintergrund der Dissertationen seiner Schüler interpretiert. Als Schüler von Samuel Stryck und Christian Thomasius lehrte Böhmer zeitlebens an der Hallenser Juristenfakultät. Seit dem Jahr 1699 präsidierte er Dissertationen bzw. Disputationen im Bereich des Kirchenrechts. Auf die Bedeutung dieser Quellen für das Werk von Böhmer wurde bereits mehrfach hingewiesen (Gertrut Schubart-Fikentscher, Hans Liermann, Heinrich de Wall, Stephan Buchholz). Eine eingehende Untersuchung erfolgte allerdings bislang noch nicht (31-33). Diesem Vorhaben widmet sich die Verfasserin in ihrer 213 Seiten umfassenden Monographie mitsamt einem Anhang, in der sie alle von Böhmer präsidierten Dissertationen auflistet.
Die Untersuchung gliedert sich in sechs Abschnitte. Am Anfang stehen Präliminarien, in denen die Autorin in das Hauptwerk Böhmers einleitet (3-13), die Rolle der Dissertationen im Wissenschaftsbetrieb der frühen Neuzeit beleuchtet (13-28), den Stand der Forschung zu Böhmer referiert (31-35) und schließlich Ziel und Fragestellung der eigenen Untersuchung angibt (34-35). Im zweiten Abschnitt werden Umfeld und Unterrichtspraxis an der juristischen Fakultät zu Halle beschrieben, die Böhmer in seiner Zeit als Student und Dozent dort vorgefunden hat. Der dritte bis fünfte Abschnitt bildet den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung (60-160). Die Verfasserin geht vor allem auf das erste, dritte und vierte Buch von Böhmers 'Ius Ecclesiasticum Protestantium' ein und weist nach, dass darin mehrere Dissertationen entweder wortgleich übernommen wurden oder in überarbeiteter Weise Eingang fanden. Hierbei werden Böhmers Ansichten zum Verhältnis von Kirche und Staat erläutert (60-101), sein Kirchenbegriff entfaltet (102-105) und die Auffassung zum Eherecht dargelegt (146-165). Die 'Conclusio' am Ende der Untersuchung zieht ein Resümee, indem Böhmers Leistungen vor dem Hintergrund seines Lehrers Samuel Stryck benannt und der Beitrag der von ihm betreuten Dissertationen für seine eigenen Veröffentlichungen abschließend bewertet werden (161-175).
Neben der immensen Leistung, die 139 Dissertationen und das 6000 Seiten umfassende Hauptwerk in lateinischer Sprache zu überblicken, lässt sich der Erkenntniswert der Untersuchung für die Erforschung der Frühaufklärung aus einer dreifachen Perspektive beschreiben. Als erstes ist der wissenschaftsgeschichtliche Aspekt zu nennen. Die Dissertationen als "einmalige und bis heute kaum ausgeschöpfte Quelle" (13) waren Textvorlagen zur mündlichen Verteidigung, um einen Gelehrtengrad zu erhalten. Es spielte hierbei weniger eine Rolle, ob die Schriften vom Vorsitzenden selbst verfasst waren oder vom Respondenten, der in der Regel die Auffassungen des Vorsitzenden wiedergab. Somit ist diese Literaturgattung der eigentliche Ort, an dem die Diskussion neuerer Entwicklungen und aktueller Rechtsfragen erfolgte. Die Dissertationen fungierten als Vorläufer der sich erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts etablierenden Fachzeitschriften. Die Hallenser Fakultät zeigt sich als besonders exemplarisches Beispiel, da die ordentlichen Professoren nicht nur die zu disputierenden Themen nach Belieben wählen konnten, sondern auch von der Zensur ausgenommen waren (23). Anhand von Böhmers Dissertationspraxis konnte nun an einem Beispiel gezeigt werden, wie sehr die Dissertationen als Versuchsfeld für die Formulierung eigener Positionen genutzt wurden, wenngleich eine Identifizierung der Autorenschaft der Dissertationen in der Untersuchung nicht geleistet wurde. Allerdings gilt es zu bedenken, dass die Forschung hinsichtlich der Auswertung der Quellen noch am Anfang steht und eine solche Identifizierung den Rahmen der Untersuchung bei weitem überschritten hätte.
Der zweite Aspekt bezieht sich auf die Entstehungsgeschichte von Böhmers Hauptwerk. Die Beobachtung, dass im 'Ius Ecclesiasticum' einige seiner Dissertationen Eingang fanden, wurde in der Forschung bereits bemerkt (S. 34; Anm. 203). Doch fehlte bislang ein genauerer Vergleich der Textbestände zwischen seinem Hauptwerk und den Dissertationen. Der "Dreh- und Angelpunkt" (95. 78), den die Verfasserin bei der Themenwahl zahlreicher Dissertationen entdeckt, ist die Diskussion um die Kompetenzen des protestantischen Landesherrn in Kirchensachen. Ihn bezeichnet das Stichwort "ius circa sacra". Die Autorin macht hierbei auf Böhmers territorialistische Grundhaltung aufmerksam. Freilich wäre es bei dieser Frage hilfreich gewesen, stärker die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten zwischen Dissertationen und Hauptwerk kenntlich zu machen, um so ein schärferes Profil von Böhmers Denken zu erhalten. Die Frage, ob sich Böhmer im Laufe der Entwicklung vom scharfen territorialistischen Konzept im Gefolge von Christian Thomasius distanzierte und zu einer gemäßigten Position überging oder sich sogar der kollegialistischen Ansicht näherte, wird in der Untersuchung bedauerlicherweise nicht diskutiert (99; 101; Anm. 286).
Der dritte Aspekt bezieht sich auf die kirchenrechtsgeschichtliche Bedeutung Böhmers für die Frühaufklärung. Seine charakteristische Vorgehensweise im 'Ius Ecclesiasticum Protestantium' ist der kommentierende Durchgang von mittelalterlichen päpstlichen Dekretalen, die den Bestandteil des 'Corpus Iuris Canonici' bilden. Durch kirchengeschichtliche, naturrechtliche und theologische Erläuterungen werden jene Texte aus protestantischer Perspektive auf ihre mögliche Anwendbarkeit hin überprüft. Böhmer beschreitet damit den "mittleren Weg" (media via) zwischen totaler Ablehnung und unreflektierter Befolgung der katholischen Rechtsurkunden. Diese Vorgehensweise weist auf eine gewisse Analogie zu seinem Lehrer Samuel Stryck hin. Dieser wurde dadurch berühmt, dass er die Pandekten aus dem 'Corpus Iuris Civilis' auf ihre Geltung hinsichtlich des "modernen Gebrauchs" (usus modernus) für die Jurisprudenz befragte, womit er zur Verselbstständigung des deutschen Rechtsbewusstseins beigetragen hat (Franz Wieacker). Diese Analogie führte in der Forschung zur Behauptung, dass Böhmers besondere kirchenrechtsgeschichtliche Leistung darin bestehe, den "usus modernus" auf das Gebiet des Kirchenrechts übertragen zu haben (35). Die Verfasserin geht dieser Einschätzung nach und bestätigt sie mit ihrer Untersuchung (165).
Roland M. Lehmann