Wolfgang Mantl: Politikanalysen. Untersuchungen zur pluralistischen Demokratie (= Studien zu Politik und Verwaltung; Bd. 50), Wien: Böhlau 2007, XII + 345 S., ISBN 978-3-205-98459-7, EUR 39,00
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Wolfgang Mantl, seit 2007 emeritierter Ordinarius für Politikwissenschaft und Verfassungsrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz und Doyen der "Grazer Schule der Politikwissenschaft", hat ein wissenschaftliches Œuvre mit weitem Horizont vorzuweisen. Als Leuchtspuren seien hier etwa das 1980 mit Alfred Klose und Valentin Zsifkovits in zweiter Auflage herausgegebene "Katholische Soziallexikon" sowie die von ihm seit 1981 zusammen mit Christian Brünner und Manfried Welan als Herausgeber betreuten "Studien zu Politik und Verwaltung" erwähnt, die als "Weiße Reihe" inzwischen zu einer Marke geworden und auf knapp 100 Bände angewachsen sind. Auch der mit unverwechselbarer Handschrift konzipierte Sammelband "Politik in Österreich. Die Zweite Republik: Bestand und Wandel" von 1992 ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben.
Differenzierter und persönlicher, als es die bloße Aufzählung der von ihm als Autor und Herausgeber verantworteten Werke vermag, dokumentiert die voluminöse, von seinen Schülern Hedwig Kopetz, Joseph Marko und Klaus Poier im Jahr 2004 vorgelegte zweibändige Festschrift zum 65. Geburtstag die breite, auch internationale Resonanz, die Wolfgang Mantl nicht nur als Forscher, sondern auch als Lehrender, als (wissenschafts)politischer Kopf, als Gesprächspartner in verschiedensten Bezügen evoziert und gefunden hat. [1] Als gelernter Jurist wandte er sich schon früh der Staatslehre und Politikwissenschaft zu. Damit war Mantl bereits zu einer Zeit an den Schnittstellen von Geschichte, Kultur, Politik und Recht unterwegs, als Interdisziplinarität im Wissenschaftsbetrieb noch kein Standard war und allenfalls als "nice to have" galt.
Der hier angezeigte Sammelband mit insgesamt 20 Beiträgen aus 40 Jahren zeichnet einige dieser "Grenzgänge" nach, mit denen der Autor das eigene wissenschaftliche Profil schärfte und damit auch dasjenige der "Juristenpolitologie" als Disziplin, die sein Lehrer, der Staatstheoretiker und Öffentlichrechtler Gustav E. Kafka (1907-1974), in den 1960er-Jahren begründet hatte. Eine Würdigung Kafkas sowie ein kurzer Aufriss dieser Schulbildung ist in dem Aufsatz "Politische Parteien: prospektiver Blick und operative Kraft" (89-104) nachzulesen.
Mantl selbst bezeichnet die in dem Band "Politikanalysen" zusammengestellten "Untersuchungen zur pluralistischen Demokratie" als Erkundungen in der "Aufklärungswelt" (IX), wie er die politische Kultur der vergangenen 250 Jahre im europäisch-nordamerikanischen Raum bezeichnet. Sein Erkenntnisinteresse reicht dabei von den Individuen als Grundrechtsträgern bis hin zur Staatsorganisation, wobei Schwerpunkte auf den Gebieten der Demokratie-, Parteien- und Wahlrechtsforschung liegen. Ausführlich widmet sich der Autor aber auch der Geschichte der politischen Ideen sowie Aspekten der österreichischen Zeitgeschichte bis herauf in die Gegenwart.
Die drei sehr unterschiedlichen, auf Vorträgen fußenden Originalbeiträge des Bandes markieren so etwas wie die Eckpunkte eines Dreiecks, zwischen denen die Themen des Mantl'schen Denkens aufgespannt sind. Wohl kaum zufällig steht der erste dieser Beiträge unter dem Titel "Die Bestandskraft der Antike" ganz am Beginn (1-9). Darin legt der Autor mit Verve ein persönliches Bekenntnis für die klassische Bildung ab. Zu Unrecht werde dieses Ideal als überholt abgetan, die negativen Konsequenzen der Vernachlässigung seien etwa im Universitätsbetrieb unübersehbar: "eine Verarmung, ja Banalisierung des wissenschaftlichen Redens und Schreibens insgesamt, eine Skelettierung des Ausdrucks ohne Subtilität" (5). Zugleich ist Mantl davon überzeugt, dass die Neubegründung der humanistischen Legitimität aus unserer Zeit kommen und nicht idealistisch, sondern funktional argumentiert sein muss. Sein Plädoyer enthält einige Spurenelemente, warum eine profunde Allgemeinbildung auch künftig auf Latein und Griechisch nicht verzichten sollte.
Der politischen Ideengeschichte ist der zweite, in englischer Sprache abgefasste und auf einem Vortrag vor der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften beruhende Originalbeitrag gewidmet: "Liberalism: An Explanation of the Concept" (217-224). Darin verweist Mantl unter anderem auf eine genuin österreichische Tradition des liberalen Denkens in Künsten und Wissenschaften, die im intellektuellen Panorama des Wiener Fin de siècle wurzelte. Dieses Denken - repräsentiert von Geistesgrößen wie Sigmund Freud, Ludwig Wittgenstein, Hans Kelsen, Joseph Alois Schumpeter, Ludwig von Mises, in nächster Generation auch von Karl Raimund Popper und Friedrich August von Hayek - wurde in den 1930er-Jahren ins Exil gedrängt und entfaltete vor allem im angloamerikanischen Raum eine kaum zu überschätzende Wirkung.
Der dritte Originalbeitrag bietet schließlich eine knappe biografische Skizze von Leopold Figl (301-309). Darin umreißt Mantl - weniger wissenschaftlich als essayistisch - pointiert die Mühen des Anfangs, die die Ende 1945 gebildete österreichische Bundesregierung unter der Führung Figls zu bewältigen hatte, denn: "Österreich war in Recht und Wirklichkeit noch kein souveräner Staat" (304). Dass die Zweite Republik die österreichische Antwort auf die Erste Republik werden konnte, wie es an anderer Stelle in diesem Buch heißt, war auch und besonders der Persönlichkeit des legendären ÖVP-Politikers zu verdanken. In der Charakterisierung Figls streicht Mantl neben vielem, was ihm auch andere attestieren, besonders dessen politische Nüchternheit, seinen "Austropragmatismus" (309) hervor.
Von besonderem Interesse für Historiker ist der Aufsatz über das "Experiment" des österreichischen Ständestaates, der zuerst 2002 in der Festschrift für Urs Altermatt erschienen ist (243-256). In einer theoretisch-systematischen Einordnung des Ständestaates gelangt Mantl - unter anderem in Anlehnung an Karl Dietrich Bracher - zum Schluss, dass der katholische Traum vom "dritten Weg" zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Individualismus und Kollektivismus, nach der Ausschaltung des Parlaments und der Auflösung der Parteien in den Jahren 1933/34 in ein politisches System mündete, das ohne jeden Zweifel eine "bürokratisch-etatistische Diktatur" war: "Die Betonung lag stets auf 'Staat', nicht auf den 'Ständen' [...]" (254).
Die schrittweise Zerstörung der demokratiepolitischen Kultur hatte mit der Polarisierung und Militarisierung der österreichischen Innenpolitik schon in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre eingesetzt, ein "Debakel", für das die christlichsoziale Regierungspartei die Hauptverantwortung trug, wie es in einem weiteren, flankierenden Beitrag ausgeführt wird. Die ideologischen Treiber der nun in Gang kommenden "autoritären Revision der Moderne mit all ihren liberal-rechtsstaatlichen und wirtschaftlichen Errungenschaften" (253) lagen allerdings schon seit langem im Arsenal des katholischen Staatsdenkens.
Insbesondere im Hinblick auf dieses spezifische Profil des politischen Katholizismus in Österreich - seine Ursprünge, theoretischen Zerklüftungen, machtpolitischen Verwerfungen sowie Transformationen nach 1945 - hat Wolfgang Mantl immer wieder differenzierte Deutungen angeboten. Dass er diese Positionen zwischen, bisweilen auch quer zu den Strängen der in Österreich lange nachklingenden Proporzgeschichtsschreibung, der Kirchengeschichtsforschung und der eher sozialwissenschaftlich geprägten Politologie bezogen hat, hat immer wieder für neue Impulse in einer bis heute andauernden Diskussion über diese Fragen gesorgt. Exemplarisch lässt sich dies auch an den in den Sammelband aufgenommenen Catholica, etwa an den Ausführungen über die Konturen der "Volkskirche" in Österreich (vgl. 267-285), studieren.
Eine strukturelle Schwäche, die derartigen chronologisch-thematischen Querschnitten einer akademischen Karriere inhärent sind, kann allerdings auch der Band "Politikanalysen" nicht verbergen. Es ist und bleibt ein Wagnis, ältere, bereits an anderer Stelle erschienene Aufsätze in unveränderter Form zu publizieren. Was für die Intuition eines einzelnen Autors sprechen mag und in der Summe der Teile als Leistungsbilanz verständlich ist, enthält noch keinen Hinweis darauf, ob bzw. inwieweit die einzelnen behandelten Stoffe und Motive, Begriffe und Personen für aktuelle Diskurse Bedeutung haben. Hier hätte ein kleiner Vorspann vor jedem der älteren Beiträge den Lesern dazu verholfen, einerseits den zeitgenössischen Kontext zu erschließen, in dem diese Arbeiten platziert waren, andererseits den jeweiligen Gegenwartsbezug nachzuvollziehen.
Um es mit den Worten des Autors selbst zu sagen: "Geschichte, Politik und Recht sind unabgeschlossen. Sie erfordern stets neue Erfindungs- und Gestaltungskraft" (XII). Als Einstieg in den parallel dazu verlaufenden, breiten Reflexionsstrom eignet sich der hier angezeigte Band jedenfalls in vorzüglicher Weise.
Anmerkung:
[1] Vgl. Hedwig Kopetz / Joseph Marko / Klaus Poier (Hgg.): Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat. Phänomene politischer Transformation. Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag (= Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 90/I+II), Wien / Köln / Graz 2004.
Matthias Opis