Volker Herholt: Antisemitismus in der Antike. Kontinuitäten und Brüche eines historischen Phänomens (= Pietas; Bd. 2), Gutenberg: Computus 2009, 175 S., ISBN 978-3-940598-05-9, EUR 54,90
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Die historischen Erklärungsversuche des Antisemitismus nach dem "Holocaust" sollen mit dieser von Ernst Baltrusch an der FU Berlin betreuten Dissertation auf modernere Füße gestellt werden. Dabei hat sich Herholt mehrere Ziele gesteckt, die in einem sinnvollen Zusammenhang stehen: Es geht um tiefere Erklärungen des "Antisemitismus" jenseits der phänomenologischen Beschreibungen. Dazu sollen Methoden und Erkenntnisse anderer Disziplinen herangezogen, Kontinuitäten quer durch die Jahrhunderte festgestellt und damit mögliche übergreifende Parameter gleichermaßen für Antike und Moderne gefunden werden, wobei sich eine erneute Reflexion über die angemessene Terminologie (Antisemitismus, Antijudaismus, Judeophobia, Judenfeindschaft) anbietet. Schließlich geht es um die Frage, warum gerade die Juden Opfer von Vorurteilen und Verfolgungen waren. Kern der Arbeit ist der Judenexkurs des Tacitus (hist. 5,1-13), für den Herholt eine Neuinterpretation für sich beansprucht. Diese Ziele sind in der Einleitung (9-18) formuliert.
Das zweite Kapitel (Antisemitismusforschung: Theorien, Tendenzen, Methoden, 19-77) ist einerseits ein bloßes Referat über bisherige Forschungsansätze zum modernen und antiken Antisemitismus (Koselleck, Rürup, Bein, Isaac, Simon, Ruether, Heinemann, Yavetz, Schäfer). Hier überschreitet Herholt bewusst den selbstgesteckten Zeitraum vom ersten Jahrhundert v.Chr. bis zum ersten Jahrhundert n.Chr. Dabei fließen auch Selbstverständlichkeiten über subjektive Gebundenheit des Historikers ein. Vor den Augen Herholts hat keine der Theorien Bestand, wobei zu Recht auf Schwächen und Widersprüche verwiesen wird.
Zum anderen bietet der Autor eine Auswahl von Disziplinen, die Erscheinungen wie Ethnozentrismus, Xenophobie, Vorurteile und Hass allgemein aus der menschlichen Genese zu erklären versuchen, so die Psychologie und Soziologie (Bergmann, Castoriadis), die historische Anthropologie (Dresserli, v. Dülmen), die Mentalitätsgeschichte (Dinzelbacher) sowie die Soziobiologie (A.-K. und H. Flohr), die aber besonders nach dem Holocaust mit der nötigen Vorsicht vor einem platten Biologismus heranzuziehen ist.
Im dritten Kapitel, in dem es um den Judenexkurs des Tacitus geht, ist der Interpretation im Einzelnen ein Forschungsüberblick vorangestellt, zugespitzt auf die Frage nach der Kontinuität der taciteischen antisemitischen Vorwürfe bis zur Moderne. Hier werden Bloch (bejahend) und Heinsohn (verneinend) als Kontrahenten herausgegriffen.
Der gesamten Deutung des taciteischen Exkurses liegt von vorneherein die Auffassung zugrunde, dass es sich bei Tacitus um einen eingefleischten Antisemiten handelt. Er schreibt z.T. wider besseres Wissen (Tempelsteuer, Eselsbild im Tempel) oder hat falsche Kenntnisse über die Juden, die er durch Heranziehung der Septuaginta, des Josephus und des Philo hätte vermeiden können (realistisch?), die aber das allgemeine Wissen der damaligen römischen Oberschicht widerspiegeln. Nun ist zwar aus Sicht des Rezensenten diese Einschätzung des Tacitus prinzipiell nicht gänzlich falsch, aber doch insofern übertrieben, als neutrale oder positive Passagen des Exkurses entweder angeblich nicht erklärbar sind (104) oder angesichts des gesamten Textes nicht ins Gewicht fallen (131) oder einer "Metaebene der Bedeutung" (149) zugeordnet werden oder gerade dadurch auf den Leser "besonders schockierend gewirkt [haben], gerade weil die Sachlichkeit der Darstellung das ganze Ausmaß der Differenzen offenlegte, ohne den Blick darauf durch irgendeine, in diesem Fall unnötige Polemik zu verstellen" (132).
Ähnlich problematisch sind folgende Behauptungen: Kann man "metus" und "odium" der Äthiopier auf die stammesgenössischen Juden, die daraufhin gezwungen waren, ihre Wohnsitze zu verlassen, mit dem "metus Gallicus" bzw. "Punicus", also auswärtigen Feinden vergleichen? Genügt es zum Beweis, dass die Beschneidung gerade auch ein besonderes Zeichen von Homosexualität sei, auf ein Gedicht Martials (11,94) zu verweisen, in dem sich dieser selbst als Homosexueller outet (125f)? Lässt sich der Verzicht der Juden auf Schweinefleisch als genereller Ausschluss vom Kontext eines Mahles deuten? Bedeutet Proselytenmacherei eine Bedrohung der auf den Kaiserkult gegründeten Gesellschaftsordnung im Sinne einer "politischen Religion", was Tacitus als "Frontalangriff" auf das politische System verstanden habe? Könnte man den Vorwurf der "dominatio", die, wie Herholt zu Recht bemerkt, einen "Selbsthass" des Tacitus widerspiegelt, der dann auf die Juden projiziert worden sein soll, auch als versteckte Kritik am eigenen System verstehen?
Es bleibt also eine Menge von Fragen, und Anstöße zur weiteren Forschung sind ja nicht das Schlechteste, was ein Buch bewirken kann.
Ein Resümee lässt sich wie folgt ziehen: Es gibt einige neue Erkenntnisse durch die Heranziehung der genannten Wissenschaften, die hier nur pauschal gewürdigt werden können. Auch soll die Mühe, die beim Einarbeiten in die fachfremde Literatur von Anthropologie, Soziobiologie u.a. nötig war, nicht unterschätzt werden.
Es ergibt sich, dass Antisemitismus eine tiefere Erklärung durch Anthropologie und (richtig angewandte) Soziobiologie erfahren kann. Wir haben es mit Grundformen von Ethnozentrismus zu tun, zu dem Xenophobie, Selbst- und Fremdenhass sowie Vorurteile gehören. Das, was den Menschen durch die Jahrtausende individuell geprägt hat, lässt sich auch für ganze Ethnien feststellen. Was auf diese Weise in den Blick kommt, sind anthropologische Konstanten, ohne die es übrigens keinerlei Humanwissenschaft gäbe. Es kommt nun darauf an, solche Elementarerfahrungen in ihrer jeweils konkreten historischen Besonderheit zu erfassen, und insofern ergibt sich in der Tat eine gewisse Kontinuität bei den antisemitischen Vorwürfen. Diese Erkenntnis gilt allerdings für das Verhältnis aller Ethnien untereinander. Wenn Herholt die taciteischen Vorwürfe mit den Worten "ex diversitate morum ..." (hist. 5,12,2) zusammengefasst sieht, könnte man dies mit Herodot vergleichen, der im zweiten Buch seiner Historien über die Ägypter schreibt (2,35): "Wie der Himmel in Ägypten anders ist als anderswo, wie der Nil anders ist als andere Ströme, so sind auch die Sitten und Gebräuche der Ägypter fast in jeder Hinsicht denen der übrigen Völker entgegen gesetzt". Die Frage, warum es gerade die Juden über Jahrhunderte getroffen hat, wird auch von Herholt nicht wirklich beantwortet.
Die Frage nach der Terminologie endet im Unklaren (157f.). Einerseits legt Herholt keinen besonderen Wert auf die Begrifflichkeit, die mehr "eine Frage der Konvention" sei, obwohl er dem Problem insgesamt ziemlich viel Raum widmet und es zu Anfang als "ein wesentliches Ziel dieser Arbeit" deklariert (17). Die Alternative "Antijudaismus" für Antike und Mittelalter und "Antisemitismus" für die Moderne hält er wegen der Kontinuität der meisten Inhalte für undiskutabel. "Judeophobia" sei "zu sperrig" (?). Also erscheint ihm der etablierte Begriff "Antisemitismus", siehe Buchtitel, angebracht, der auch Vorurteile gegen andere östliche Völker nach Isaac (157, Anm. 25) abdecke (und damit wiederum das typisch "Jüdische" ausklammert!). Eigentlich aber ist Herholt mehr für das weniger emotional aufgeladene Wort "Judenfeindschaft", und der Leser bleibt etwas ratlos zurück.
Karl Leo Noethlichs