Rezension über:

Nuala Zahedieh: The Capital and the Colonies. London and the Atlantic Economy, 1660-1700, Cambridge: Cambridge University Press 2010, XVIII + 329 S., ISBN 978-0-521-51423-1, GBP 55,00
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Rezension von:
Andreas Fahrmeir
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Fahrmeir: Rezension von: Nuala Zahedieh: The Capital and the Colonies. London and the Atlantic Economy, 1660-1700, Cambridge: Cambridge University Press 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/09/18158.html


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Nuala Zahedieh: The Capital and the Colonies

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Nuala Zahediehs Buch gehört zu den vielen Werken, deren Titel nicht so ganz genau zum Ausdruck bringt, worum es eigentlich geht. Es gehört zu den wenigen Publikationen, bei denen der Titel weniger vermuten lässt, als der Inhalt tatsächlich bietet.

Es geht der Autorin erstens um die Überprüfung der These, es seien die Navigation Acts gewesen, die England zu einer merkantilen Großmacht gemacht hätten. Legislativer Zwang sei, so ihre Hypothese, angesichts der begrenzten Möglichkeiten des Staates und der Neigung aller Akteure im atlantischen Raum, juristische Handelshindernisse durch Schmuggel zu umgehen, kaum geeignet gewesen, um Güter auf englische Schiffe und in englische Häfen umzuleiten. Mithin müsse es den englischen Kaufleuten, Reedern und Häfen gelungen sein, ihre Dienstleistungen ebenso preiswert anzubieten wie die niederländische (oder französische) Konkurrenz. Das Buch untersucht erstens mithin, ob und warum das so war.

Dabei verbindet Zahedieh eine souveräne Kenntnis der Literatur und Quellen mit einer neuen empirischen Analyse, nämlich Stichproben aus den "Port Books" Londons, in denen Wert, Herkunft, Art und Ziel von Waren, die Namen der einfahrenden und auslaufenden Schiffe sowie die an den Unternehmungen beteiligten Reeder, Kapitäne und Kaufleute festgehalten wurden. Diese Quelle erlaubt ihr präziser als der bisher vorliegenden Literatur, Warenströme und den Kreis der führenden Akteure im Atlantikhandel zu bestimmen, also die Themen, auf die sich das Buch fortan konzentriert.

Das Werk gliedert sich - nach einer Einführung in die Problemstellung und in die Bedeutung der atlantischen Ökonomie - in vier Abschnitte, die Kaufleuten, Schiffen, Importen und Exporten gewidmet sind. Hier wird jeweils anschaulich dargestellt, wer in welchem Umfang mit welchen Waren handelte; auf welcher Art von Schiffen Waren wie schnell (oder langsam) transportiert wurden; was aus der Karibik und Nordamerika nach England importiert und was aus England in die Kolonien exportiert wurde.

Darin steckt unterschiedlich viel Neues. Entsprechend ihrer Fragestellung interessiert sich Zahedieh vor allem für Gewinnmargen der unterschiedlichen Akteure. Dabei fällt ihr Urteil sowohl über die Kaufleute als auch über die Reeder eher pessimistisch aus. Im Vergleich zu den Risiken und Gewinnchancen, auf eigene Rechnung zu handeln, seien die üblichen 2,5% Kommission für Agenten nicht zu verachten gewesen. Am profitabelsten sei noch die Kontrolle eines Docks oder einer Werft in London gewesen; hier hätten sich Monopole gebildet, die entsprechende Gewinne versprachen. Im Handel, der von einer Fülle kleinerer Akteure bestimmt wurde, die um Stauraum in einer großen Flotte konkurrierten, sei das anders gewesen; hier bestimmte harte Konkurrenz ein Geschäft, das nur wenig Aussicht auf hohe Gewinnmargen bot - zumal dann, wenn Kriege den Handel gefährdeten oder ganz unterbrachen.

Importiert wurde aus den karibischen Kolonien zunächst vor allem Tabak, der rasch von Zucker als wertvollstem Exportgut abgelöst wurde. Aus den nordamerikanischen Besitzungen wurde vor allem Fisch ausgeführt (der freilich teilweise direkt in die Karibik und nach Südeuropa transportiert wurde); in London landeten vorwiegend Pelze und Tabak.

Was die Ausfuhren in die Karibik betrifft, so relativiert Zahedieh die Bedeutung der Lebensmittelimporte auf die Plantageninseln - obgleich die Inseln netto-Importeure waren. Wichtigste Güter waren Fertigwaren (Textilien, Eisenwaren, Maschinen, sogar Kutschen), dicht gefolgt von Arbeitskräften (den so genannten Indentured Servants und Sklaven), die allerdings in einer zentralen Quelle zusammen mit Wein angegeben werden, sowie sonstige alkoholische Getränke.

Zahedieh argumentiert, die Anforderungen des Atlantikhandels seien ein zentraler Grund für Innovationen in englischen Geschäftspraktiken gewesen - stärkere Arbeitsteilung im Handel, günstigere Versicherungen, striktere Standards für Kapitäne und Reeder etwa. Zwar verfügte England bereits über das bessere Schiffsmodell für den Atlantikhandel, dennoch senkte darüber hinaus die Entscheidung, Schiffe auch in Nordamerika bauen zu lassen, die Kosten weiter. Insofern war es eine hausgemachte Effizienzsteigerung und nicht die von Zeitgenossen und späteren Beobachtern wie Adam Smith hervorgehobene Bedeutung der Navigationsakte, welche London zum Zwischenhandelsknotenpunkt der Welt werden ließ.

Diese These ist nicht ganz ohne Probleme. Es bleibt etwas unklar, ob der englische Staat - angesichts der geringen Zahl zu kontrollierender Häfen - wirklich so handlungsunfähig war; wenn die Aussagen der Zeitgenossen als gänzlich falsch dargestellt werden, macht das immer etwas misstrauisch. Dazu kommt eine methodische Rückfrage. Zahedieh stellt eine komparative These auf (England war effizienter als die Niederlande und andere Akteure im Atlantikhandel), unternimmt aber keinen systematischen Versuch, diese auch komparativ zu belegen. Das liegt wiederum daran, dass nur englischsprachige Literatur und Quellen rezipiert wurden. Man könnte sich ja zum Beispiel fragen, ob die angesichts des Ausfallrisikos (und der enormen Prämien, die gezahlt wurden, um in diesem Sektor eine Lehrstelle zu erhalten) überraschend niedrigen Gewinnspannen im Transatlantikhandel, die Zahedieh ermittelt hat, auch auf eine Konkurrenz unter durch die Navigationsakte erschwerten Bedingungen zurückgingen. Solche Fragen müssen aber spekulativ bleiben, da die schwierige Quellenlage einen Blick hinter die Kulissen der Kaufmannskontore nur in den seltensten Fällen erlaubt. Und zudem ändern solche Fragen ja nichts daran, dass Zahedieh mit einem beachtlichen empirischen Aufwand zunächst einmal Datenserien bereitgestellt und interpretiert hat, welche die Diskussion solcher Fragen auf einer empirischen Grundlage erlauben.

Das Werk bietet zweitens - und das unterschlägt der Titel - eine auf dem neuesten Stand geschriebene, klar argumentierte Geschichte der englischsprachigen atlantischen Welt im ausgehenden 17. Jahrhundert. Die Kernthese Zahediehs zu den Auswirkungen (oder fehlenden Auswirkungen) der Navigationsakte wird in einem Text präsentiert, der eine Unternehmens-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte der transatlantischen Produktion und des transatlantischen Konsums, dazu eine Geschichte des kommerziellen Londons darstellt - und die zudem hervorragend geschrieben und reich illustriert ist. Somit sollte auch jede/r, der sich allgemein für Zucker, Pelze, Tuche und ähnliches interessiert, dieses Buch lesen.

Andreas Fahrmeir