Rezension über:

Uta Gerhardt: Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert. Studien zu ihrer Geschichte in Deutschland, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, 392 S., ISBN 978-3-515-09286-9, EUR 42,00
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Rezension von:
Stephan Lessenich
Institut für Soziologie, Friedrich Schiller Universität Jena
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Lessenich: Rezension von: Uta Gerhardt: Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert. Studien zu ihrer Geschichte in Deutschland, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 10 [15.10.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/10/17199.html


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Uta Gerhardt: Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert

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Immerhin: Wer dieses Buch liest, weiß von Beginn an, was er/sie nicht davon erwarten darf - eine Geschichte der deutschen Soziologie nämlich, die, "einer akademischen Untugend" folgend, "alle möglichen Ansätze und verschiedene Theorierichtungen zu wissenswertem Wissen" (9) erklären würde. Ganz im Gegenteil: Uta Gerhardt hat eine deutsche Soziologiegeschichte - genauer: einige Kapitel zu einer solchen - geschrieben, die weiß, was deutsche Soziologinnen und Soziologen wissen sollen. Ganz antipluralistisch schickt sie sich an, pseudosoziologische Spreu von soziologiehistorischem Weizen, "wissenswertes" von (im Umkehrschluss) wissensunwertem Wissen zu trennen. Ihre 350-seitige wissenschaftliche Selektionsarbeit folgt dabei einem klaren, geradezu entwaffnend einfachen Schema: auf der einen Seite Positivismus - einst in der Tradition Herbert Spencers, heute in der Gestalt von Rational Choice - und zumindest zeitweilig modisch-doktrinärer Marxismus als Schreckgespenster und beinahe erfolgreiche Totengräber der Soziologie im Deutschland des 20. Jahrhunderts; auf der anderen Seite (neben Georg Simmel und Alfred Schütz insbesondere) Max Weber sowie dessen akademischer Reanimateur Talcott Parsons als soziologiehistorische Lichtgestalten und Retter in der von der Gegenseite ausgehenden wissenschaftlichen Not.

Mit Weber, Gerhardts Fixstern am Soziologiefirmament, lässt sich sagen, dass die sechs in diesem Band versammelten Studien ganz dezidiert eine Ordnung der Kulturwirklichkeit - hier eben der Geschichte der deutschen Soziologie - unter einseitigen Gesichtspunkten vornehmen: sie taxieren diese "unter einem Weber-Parsons'schen Gesichtswinkel" (20). Was zunächst als heuristischer Kunstgriff erscheint, erweist sich jedoch schon bald - und im Verlauf der Untersuchung immer unverblümter - als eine Argumentationsstrategie von durchaus normativem Gehalt: Wer immer sich im vergangenen Jahrhundert hierzulande vom weberianischen Erbe entfernt hat bzw. sich den parsonsianischen Vorgaben zu entziehen trachtete, verließ damit unweigerlich den soziologischen "Pfad der Tugend" (23); wer sich hingegen - was allerdings den Studien zufolge kaum einmal der Fall war - dem damit benannten, methodologisch begründeten und begriffslogisch operierenden Paradigma verpflichtet fühlte und die kanonischen Schriften desselben "textgenau" (92) rezipierte, kann sich Gerhardts Würdigung sicher sein. Dementsprechend erscheint als Wegscheide der neueren deutschen Soziologiegeschichte auch nicht etwa das ominöse Jahr 1968 und also der 16. Deutsche Soziologentag in Frankfurt am Main mit seinen kontroversen Debatten um die nach Meinung der Zeitgenossen gesellschaftstheoretisch angemessene Gegenwartsanalyse - "Industriegesellschaft oder Spätkapitalismus" -, sondern vielmehr die vorherige Zusammenkunft der deutschen Soziologenzunft 1964 an der Universität Heidelberg anlässlich des hundertsten Geburtstags Max Webers. Nicht zufällig war es die spätere Wirkungsstätte der Verfasserin, an der dank akademischer Intervention aus den Vereinigten Staaten, namentlich von Seiten Talcott Parsons', "der Makel der angeblich konservativen Politikpräferenz" (234) von Weber "abgewaschen" (ebd.) und der "Rückweg zur werkgetreuen Rezeption des Werkes Webers" (15) geebnet wurde - und damit zur Bewahrung der deutschen Soziologie vor weiteren positivistischen, marxistischen oder sonstigen wissenschaftlichen Ab- und Irrwegen.

In gewisser Weise präsentiert Uta Gerhardt in diesem Band tatsächlich eine "Diskursgeschichte" (17) der deutschen Soziologie: im Sinne nämlich ihrer ganz persönlichen, autoritativen Rekonstruktion des im Deutschland des 20. Jahrhunderts soziologisch Sagbaren. Was diesbezüglich "geht", ist das - und auch nur das -, was in der deutschen Traditionslinie einer "geisteswissenschaftlichen Soziologie" (44, vgl. Kapitel I) steht bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg als "amerikanischer Import" in Sachen empirischer Sozialforschung (vgl. Kapitel III und insbesondere IV) nach Deutschland kam. Von soziologiehistorischer Bedeutung waren demnach hierzulande die 1950er und 1960er Jahre (vgl. Kapitel V), wohingegen in den beiden folgenden Jahrzehnten (Kollegen wie bspw. Ulrich Beck werden es gerne vernehmen) nichts Bemerkens- oder gar heute noch Wissenswertes geschehen sei - und die Profession auch im "neuen Deutschland" 1989ff. (vgl. Kapitel VI) die Chance der angemessenen (vulgo: den Begriffen Webers folgenden) soziologischen Analyse von politischem Systemwechsel und gesellschaftlichem Strukturwandel fahrlässig vergeben habe. So gegenstandsadäquat die dem Band zugrundeliegende Entscheidung einer Verkoppelung von Gesellschaftsgeschichte und Soziologiegeschichte daher zunächst auch anmuten mag: Die von der Verfasserin geworfenen Schlaglichter auf diese Doppelgeschichte erscheinen, aufs Ganze gesehen, doch allzu idiosynkratisch. Und als disziplingeschichtlich unangemessen muss auch die allzu einfach - nämlich im Sinne von Lepsius' zweifelhaftem Diktum von der "faktischen Auflösung der Soziologie" (vgl. 14, 123) - begründete Ausblendung der Zeit der NS-Herrschaft bezeichnet werden. Der Nationalsozialismus spielt für Gerhardt nur als Gegenstand soziologischer Analyse, sprich weberianisch-parsonsianischer Herrschaftssoziologie, eine Rolle (vgl. Kapitel II), nicht jedoch als Teil der deutschen Soziologiegeschichte - womit im Übrigen die von der Verfasserin in Anspruch genommene Logik der Themenselektion des Bandes eindeutig durchbrochen wird.

Insofern wird man den vorliegenden Band letztlich auch weniger als eine Studie zur Geschichte der deutschen Soziologie lesen müssen denn vielmehr als einen Beitrag zur Selbstbeschreibung der deutschen, genauer: der bundesdeutschen Gesellschaft (auch eine DDR-Soziologie konnte es selbstverständlich definitionsgemäß nicht geben). Aus soziologischer Perspektive erscheint dieser Beitrag allerdings überraschend distanzlos: Er folgt ausdrücklich einem wissenschaftlichen "Erkenntnisprogramm, das auf die demokratische Gesellschaft festgelegt ist" (79), d.h. auf den real existierenden demokratischen Kapitalismus des wiedervereinigten Deutschland, das der Verfasserin fraglos als "das höchstentwickelte rational-legale Regime unserer Geschichte überhaupt" (13) gilt. Wo aber das Wirkliche auch das Gute ist, ist die Soziologie vielleicht doch näher an der "Gesinnungsethik", als dies der Verfasserin lieb sein mag - zumal sie praktisch der gesamten empirisch orientierten Gegenwartssoziologie vorhält, bei der Erforschung des gesamtdeutschen sozialen Wandels "ein gesinnungsethisches Programm" (317) zu verfolgen und darüber der "Mittelmäßigkeit" (345) anheimgefallen zu sein.

Die alte Soziologie im Geiste Spencers kritisiert Gerhardt als eine, die sich so geriert habe, als ob sie "eine geschichtliche Mission zu erfüllen hätte" (26). Um ehrlich zu sein: Genau so liest sich dieses Buch, liest sich die darin enthaltene, selektive Rekonstruktion deutscher Soziologiehistorie, liest sich Gerhardts wiederholte Rede von dem "gesellschaftspolitischen Auftrag der Soziologie" (230) - und schließlich auch ihre unmissverständliche Aufforderung an "die heutige Gesellschaftsanalyse" (78), "das verpflichtende Erbe" (287) ihrer ganz persönlichen soziologischen Säulenheiligen zu wahren: "Sie muss den Simmel-Weber-Schütz-Parsons'schen Ansatz zum Allgemeingut machen" (78; vgl. ähnlich apodiktisch 130). Wenn es also nach der 1938 geborenen Emerita ginge, dann würden auch noch die Soziologie und die soziologische Gesellschaftsanalyse des 21. Jahrhunderts ganz auf den Schultern der Weber-Parsons'schen Synthese - im wahrsten Sinne des Wortes - ruhen. Doch selbst wer die unzweifelhaften "Leistungen Webers" (55) wertschätzt und dessen Charakterisierung als "das Drehmoment der modernen Soziologie" (23) durchaus teilen kann, ja auf Webers Arbeit an den soziologischen Grundbegriffen schwört und diese zur Grundlage seiner soziologischen Einführungsvorlesung macht - wie etwa der Autor dieser Zeilen -, wird durchaus grundsätzlich bezweifeln dürfen, dass es heute und im Weiteren mit einem "Fortschritt zurück zu Max Weber" (vgl. 260ff.) gesellschaftsanalytisch getan sein dürfte. Und er wird ein nicht geringes Unbehagen an der in diesem Buch zur Schau gestellten paradigmatischen Einseitigkeit, an dem von Gerhardt vertretenen und für die Gegenwartssoziologie eingeklagten wissenschaftlichen Reinheitsgebot empfinden. Seltsam: Gerade da, wo die deutsche Soziologie erklärtermaßen der gesellschaftlichen Moderne den wissenschaftlichen Weg bahnen will, wirkt sie irgendwie ziemlich antimodern.

Stephan Lessenich