Ansgar Lorenz: Kleine Geschichte der Arbeiterbewegung. In Deutschland - Von 1848 bis heute, München: Wilhelm Fink 2009, 89 S., ISBN 978-3-7705-4869-9, EUR 12,90
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Stellen wir zwei (selbst)kritische Fragen an den Anfang dieser knappen Rezension einer ebenfalls knappen, aber überaus ambitiösen Publikation: Ist es gut und Ziel führend, wenn ein - als Kinderbuchillustrator bereits ausgewiesener - Diplomand der FH Münster seine Design-Diplomarbeit zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung publiziert? Ist es gut und Ziel führend, wenn ein in die deutsche Gewerkschaftshistoriographie der letzten Jahrzehnte involvierter Rezensent der älteren Generation sich mit einem prima vista für junge Leser bestimmten Parforceritt durch die deutsche Geschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte auseinandersetzt, der keinesfalls den Anspruch auf "Wissenschaftlichkeit" erhebt?
Die der populären graphischen Gestaltung eines Comic entsprechend in DIN A4-Format gehaltene Publikation verfolgt die Absicht - ausweislich des Klappentextes -, "junge Leser (und nicht nur sie) endlich wieder mit der Geschichte der Arbeiterbewegung, ihren Protagonisten und Institutionen bekannt" zu machen. In der Tat haben wir es hier mit einer inhaltlich sehr bunten, aus Fließtext, Karikaturen und genretypischen Sprechblasen komponierten Zusammenschau von Aspekten der deutschen Politik-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert zu tun, die durch wesentliche Fakten aus der deutschen Gewerkschaftsgeschichte angereichert wird. Jeweils eine Seite ist einem inhaltlichen Zusammenhang gewidmet. In einer in der Gegenwart angesiedelten Rahmenhandlung gibt ein weiblicher Streikposten den belehrenden Narrator.
So instruiert, bewegen wir uns im Sauseschritt von den "Industrialisierung und Lohnarbeit", oder dem "Kommunistischen Manifest" gewidmeten Seiten zur "Bürgerlichen Revolution 1848"und den "ersten Arbeitervereinen". Uns begegnen der Deutsch-Französische Krieg samt Reichsgründung, die Pariser Kommune und das Sozialistengesetz. Der Erste Weltkrieg und die Novemberrevolution finden ebenso Berücksichtigung wie die Spaltung der Sozialdemokratie oder die Rätebewegung. Nach der Hälfte des Bandes ist das "Ende der Republik" und die - hier unumwunden den Freien Gewerkschaften zugeschriebene - "Politik der Anbiederung" erreicht, kurz: das Ende der deutschen Richtungsgewerkschaften und ihrer freiheitlich-sozialstaatlichen Errungenschaften im NS-Staat.
Der zweite Teil des Bandes ist der Entstehung der beiden deutschen Staaten und im Weiteren vor allem der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Entwicklung im westdeutschen Teilstaat gewidmet. Wir erfahren so u.a. von der Entstehung der Einheitsgewerkschaft, dem Montan-Mitbestimmungsgesetz, dem gewerkschaftlichen Einsatz für die 40-Stunden-Woche und gegen die Atombewaffnung, vom Verhältnis des DGB zu Phänomenen des Rechtsradikalismus in der bundesdeutschen Gesellschaft ebenso wie von der 68er-Bewegung, Streikaktionen in ausgesuchten Industriezweigen, ja gar von "neuen Arbeitsbedingungen in der Druckvorstufe". Die deutsche Einheit findet ebenso Erwähnung wie der Kosovokrieg, die Hartz-Gesetzgebung als "Sozialabbau unter Rot-Grün", zuletzt gar der "Streik der LokomotivführerInnen" des Herbstes 2007.
Kann man eine derartige Fülle von Fakten, Fachbegriffen, Namen handelnder Personen darbieten, ohne dass es zu inhaltlichen Verkürzungen, sachlichen Fehlern und Missinterpretationen kommt? Schwerlich dürfte das gelingen. Im vorliegenden Fall ist es jedenfalls recht oft nicht gelungen. Hier wird der gebotenen Fakten- und Detailfülle, die so gar nicht zu dem Grundanliegen des Autors passen will, Tribut gezollt. Weniger wäre hier zweifellos mehr gewesen. Gerade für den jungen, mit den Faktizitäten und historischen Zusammenhängen durch einen darbenden schulischen Geschichtsunterricht kaum vertrauten Schüler oder Studenten dürfte die Vielzahl der "Bäume" den Blick auf den "Wald", d.h. auf die Geschichte der deutschen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, eher verstellen denn den Zugriff erleichtern.
Reiben wir uns des Weiteren an Lorenz' durchgängiger und die Interpretation der historischen Ereignisse hier und da verzerrender Sympathie für die "vierte", mit Abstand kleinste Säule der deutschen Gewerkschaftsbewegung - und die damit verbundene Skepsis gegenüber der zahlenmäßig bedeutendsten Säule. Es gibt nur wenige Organisationszusammenschlüsse des so genannten lokalistischen, später anarcho-syndikalistischen Gewerkschaftslagers in Deutschland, die hier nicht wohlwollend erwähnt werden. Bis in die jüngste Vergangenheit (2006/07) hinein wird vergleichsweise ausführlich über "wilde" Streikaktivitäten berichtet, sofern sie mit den Splittergruppen des Anarcho-Syndikalismus zu tun haben. Es gibt anderseits kaum eine Gelegenheit, wo Lorenz der Versuchung widerstehen kann, den sozialdemokratischen "Freien Gewerkschaften" oder dem Deutschen Gewerkschaftsbund ob ihrer Kompromissbereitschaft dem Kapitalismus oder autoritären Regimes der deutschen Geschichte gegenüber am Zeug zu flicken. Auch hier vermisst man die ruhige Hand, die historische Ereignisse in angemessene Proportionen setzt.
Damit der Rezensent nicht missverstanden werde: Es ist keineswegs unzulässig, der traditionell-sozialdemokratisch verengten deutschen Gewerkschaftsgeschichtsschreibung, wie sie so unnachahmlich von den offiziösen Verbandsgeschichten der deutschen Industriegewerkschaften bis in die 1990er Jahre gepflegt worden ist, eine andere, weitere, kontroverse Sicht gegenüberzustellen. Wer jedoch meint, die großen Erfolge der deutschen Richtungsgewerkschaften und ihrer Nachfolgeorganisation durch den Hinweis auf die kaum marginal zu nennenden Aktivitäten kleiner linker Grüppchen abwerten zu können, der ist sicher schlecht beraten. Zweifellos notwendige Korrekturen und Anpassungen einer globalisierten Wirtschaft an die Erfordernisse von Demokratie und sozialem Rechtsstaat werden nicht gegen, sondern nur mit den Großorganisationen der Arbeitnehmer gelingen. Ihre Krise ist kein Grund zu klammheimlicher Freude - sondern Anlass zu fortgesetzter Besorgnis.
Und zu guter Letzt: der Sachcomic. Nach der gängigen Begriffsdefinition handelt es sich hierbei um ein dokumentarisch-didaktisches Genre, das mit den visuell-verbalen Darstellungsmitteln des Comics operiert, um mit Information und Unterhaltung den Zugang zu unterschiedlichsten Lerninhalten zu eröffnen. Lorenz' Opus erfüllt diese Erwartungen nur sehr bedingt: Auch wenn das handwerkliche Können überzeugt, künstlerische Gestaltungsfähigkeit hier und da aufblitzt - was bleibt ist ein Zuviel an Fließtext, ein Zuwenig an charakteristischen Comicelementen. Wenn es ist richtig ist, dass "die Formatakzeptanz bei der Zielgruppe [...] im Endeffekt ein so wichtiges Kriterium" ist, "dass Leserlichkeitskriterien gegebenenfalls vernachlässigt werden können" [1], dann dürfen begründete Zweifel angemeldet werden, ob Lorenz' kleine Gewerkschaftsgeschichte ihr Zielpublikum wirklich zu erreichen und zu gewinnen vermag.
Ein Fachhistoriker als Rezensent eines Pseudo-Comics? Vielleicht statthaft. Ein Illustrator als Verfasser einer bebilderten Gewerkschaftsgeschichte? - Wohl doch ein zu großes Wagnis.
Anmerkung:
[1] Heike E. Jüngst: Die Oberflächengestaltung von Comics als Problem der Wissensvermittlung in Sachcomics, in: S. Göpferich / J. Engberg (Hgg.): Qualität fachsprachlicher Kommunikation, Tübingen 2004, 69-82, hier: 79.
Hans-Georg Fleck