Angelika Schaser / Stefanie Schüler-Springorum (Hgg.): Liberalismus und Emanzipation. In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (= Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 10), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010, 224 S., ISBN 978-3-515-09319-4, EUR 29,00
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Der anzuzeigende Band, hervorgegangen aus einer Tagung des Theodor-Heuss-Kolloquiums vom Oktober 2008, zieht in 12 Beiträgen eine Zwischenbilanz der Forschungen im Verhältnis von Liberalismus und Juden- beziehungsweise Frauenemanzipation von der Gründung des Norddeutschen Bundes bis zur Machtübernahme Hitlers. Er stellt die Verknüpfung zweier Sachgebiete her, die von der Liberalismusforschung abseits der Spezialisten nahezu ignoriert worden sind. Juden und Frauen verband die Erfahrung der Zugangssperre zum christlichen bzw. männlichen Staat. Nachdem die Judenemanzipation, so die Ausgangsbasis der Autoren, in der Phase des aufstrebenden Liberalismus von christlichen Liberalen energisch gefördert worden war, traf die Frauenbewegung auf einen gewandelten Liberalismus, der mehr für nationale Interessen als für Individualrechte focht. Im Unterschied zur Judenemanzipation betraf die Frauenemanzipation die Hälfte der Gesellschaft und implizierte den Abbau männlicher Privilegien. Das traditionelle Frauenbild wirkte stärker als das ressentimentbeladene Judenbild.
Ein Leitmotiv der Beiträge insbesondere zur Judenemanzipation ist das Spannungsverhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Es wird deutlich, wie schwer der an Individualrechten orientierte Liberalismus sich mit Minderheiten tat, denen ihre Gruppenidentität wichtig war. Reinhard Rürup zufolge war die Emanzipation der Juden nur in der Repräsentativverfassung durchsetzbar. Uffa Jensen rückt das Problem des homogenisierenden Integrationalismus, der Einebnung von Gruppeneigenarten zugunsten der Universalität bloßen Menschseins, ins Zentrum und zeigt gleichermaßen, wie ähnlich die Positionen von Treitschke und Mommsen im Berliner Antisemitismusstreit waren, weil auch Mommsen die Konversion der Juden für notwendig erachtete, und wie liberale Juden die Bewahrung ihrer Besonderheiten verteidigten. Stefanie Schüler-Springorum, die die Grenzen der Integration in der liberalen Stadtkultur Königsbergs untersucht, verdeutlicht Probleme des Beharrens auf einer jüdischen Gruppenidentität an einem interreligiösen Dialog. Dem "camouflierte[n], höfliche[n] Antisemitismus" (115) in wirtschaftlichen Blütezeiten mit starkem Linksliberalismus folgte der wüste Radau-Antisemitismus nach 1918 bei Flaute im Osthandel und dem Anstieg der NSDAP 1932 auf die großstädtische Ausnahmehöhe von 44 %, wobei der Einfluss des Antisemitismus auf das Wahlverhalten der Mittelschicht noch zu klären ist. Zu einer Brückenbauerin wurde Eva Reichmann, die pro-zionistische Angestellte des liberalen Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), die, so Kirsten Heinsohn, auf das Problem der prekären Anerkennung der Juden als Gemeinschaft weist. Nach Orthodoxen und Zionisten öffnete sich unter dem Druck des NS-Unrechtsstaats auch der CV für die Gruppenemanzipation. Nach 1945 verteidigte Reichmann den Liberalismus als wichtigsten Widerpart des Nationalsozialismus, schätzte dessen Betonung der Individualrechte, aber auch die schützende, sinnstiftende Gruppe. Eine Lösung des Spannungsverhältnisses wird nicht geleistet, da die universalistische Offenheit der Bürgerlichkeit sich, laut Manfred Hettling, nur begrenzt für Vergemeinschaftung eignet.
Während zur Judenemanzipation kein internationaler Vergleich angestellt wird, unternimmt Uta Planert diesen zur Frauenemanzipation. Im europäischen Kontext erwiesen sich die Liberalen in Frankreich, wo jahrzehntelang die liberalen Abgeordneten jeweils am stärksten - bis zu 80 % - gegen das Frauenwahlrecht stimmten, am stärksten antifeministisch eingestellt. Als Gründe benennt sie das traditionell nicht individuell, sondern familiär bestimmte Frauenbild, das nach 1871 durch die revanchistisch motivierte Geburtenförderung ergänzt wurde. In Großbritannien und Deutschland gab es konservativ-liberale Vereine mit antifeministischer Tendenz, während die liberalen Abgeordneten graduell zunehmend für Frauenrechte einschließlich des Frauenstimmrechts eintraten. Konservative britische Liberale führten die deutsche Stärke, bedingt durch das Staatsverständnis als Ebenbild der männlich dominierten Familie, gegen die weibliche Schwäche ins Feld, ein stereotypes Muster, das umgekehrt auch bei deutschen Antifeministen Verwendung fand. Zwar gab es, laut Planert, keinen genuin liberalen Antifeminismus in Westeuropa, aber den bloß taktischen Einsatz für Fraueninteressen, wo die Liberalen ohne Mehrheit waren. Die geschlechtliche Gleichheitsforderung, eher ein Projekt liberaler Frauen als des Liberalismus, traf auf die tradierte Vorstellung von der natürlichen Ungleichheit der Geschlechter. Doch die Differenzierung nach Familienstand leitete die gesellschaftliche Anerkennung der Frau als Individuum ein.
Angelika Schaser widmet sich der Hauptstadt Berlin als Schrittmacher und Experimentierfeld für die Frauenemanzipation, wo die wenigen weiblichen Abgeordneten mit peripheren Bereichen abgespeist wurden, zumal die ausbleibende Werbewirkung ihrer Kandidaturen auf weibliche Wählerstimmen erkannt wurde. Sie bringt Beispiele für die Förderung von Wissenschaftlerinnen, die aber vielfach schlechtere Arbeitsbedingungen und Karrierechancen hatten. Zwar verkündete die Weimarer Verfassung die prinzipielle Gleichberechtigung der Geschlechter, die jedoch unterlaufen wurde und in der Weltwirtschaftskrise unterging. Schaser zieht die zwiespältige Bilanz von einzelnen Liberalen als Türöffnern, während dann wieder Grenzen gesetzt wurden.
Es liegt nahe, aus den Defiziten des liberalen Einsatzes für Emanzipationsbestrebungen eine grundsätzliche Liberalismuskritik abzuleiten. Obwohl Liberale die Emanzipation von Frauen und Juden angestoßen hätten, sind sie, laut Schaser und Schüler-Springorum, zu Vertretern einer bürgerlichen Klassenideologie degeneriert. Erklärungen für die "ausgeblendete Illiberalität der Liberalen" (43) liefern zwei Autorinnen. Während Karin Hausen sie in dem überkommenen, auf traditionelle bürgerliche Werte ausgerichteten Ehe- und Familienbild verankert sieht, fragt Barbara Vogel grundsätzlicher nach Defiziten in der liberalen Ideologie. So durchkreuzte der Wunsch nach Erziehung der Juden zu nützlichen Bürgern den liberalen Einsatz für die Judenemanzipation. Vogels Untersuchung der Frage, ob der Liberalismus Hindernisse gegen die Emanzipation auftürmte, greift ein frappierendes Prinzip auf: den liberalen Grundsatz "Gleiches gleich und Ungleiches ungleich nach Maßgabe seiner Ungleichheit" (212), der geeignet ist, z.B. den Ausschluss der Frauen aus dem liberalen Emanzipationsprojekt entgegen der liberalen Individualitätsideologie mit der Ungleichheit der Geschlechter zu begründen. So versagten die Liberalen auch bei der Initiierung des Frauenwahlrechts. Manfred Hettling weist zudem besonders hin auf die fortwährende, für Minderheiten ambivalente Bedeutung der Religion zur Bändigung der Einzelinteressen im Sinne einer politisch freien Kultur.
Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass es zwischen Liberalismus und Emanzipationsbewegungen in der Zeit des zweiten deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik Schnittmengen gab, mehr nicht. Die Klärung der Frage, wie weit diese reichten, bedarf breiterer Forschungsergebnisse.
Horst Sassin