Christian Adam: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich, Berlin: Galiani 2010, 384 S., ISBN 978-3-86971-027-3, EUR 19,95
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Die Auseinandersetzung mit der Literatur während der nationalsozialistischen Herrschaft war lange Zeit auf jene Arbeiten konzentriert, die gegen sie oder trotz ihr und damit meist außerhalb Deutschlands entstanden sind. Die Literaturproduktion in Deutschland selbst interessierte vornehmlich nur im Zusammenhang mit den Verfolgungs- und Selektionsmechanismen der nationalsozialistischen Kulturpolitik und mit der ideologisch eindeutig zuordenbaren Propaganda- und Blut-und-Boden-Literatur. Seit den 1980er Jahren nimmt zwar die Zahl an Studien zu, die sich jenseits dieser Bereiche mit populären Texten aus dem nationalsozialistischen Deutschland beschäftigen, dennoch blieben sie bisher eher ein Randthema.
Dem versucht Christian Adam, Germanist und seit 2007 Mitarbeiter der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin, mit seinem Buch "Lesen unter Hitler" entgegenzuwirken. Sein Interesse gilt dabei jenen Titeln, die eine Auflagenzahl von 100.000 und mehr Exemplaren erreichten, also zu den Bestsellern im weiteren Sinne zu zählen sind. Wesentliches Anliegen ist ihm darüber hinaus, "die Literatur der Zeit aus der Sicht der Leser" (11) zu betrachten.
Um die sehr unterschiedlichen Texte, um die es dabei zu tun ist, strukturell in den Griff zu bekommen, ordnet Adam sie zehn verschiedene Gruppen zu, die auch die wesentlichen Kapitel seines rund 380 Seiten umfassenden Buches bilden. Dass hierbei mache Zuordnung durchaus zu hinterfragen wäre, liegt auf der Hand, und der Autor ist sich der Subjektivität mancher Entscheidung auch bewusst. In Summe jedoch erscheinen seine "10 erfolgreichsten Buchtypen im Dritten Reich", die vom "Populären Sachbuch" über "Lachendes Leben, lustiges Volk" bis zu "Feldgrau schafft Dividende" reichen, durchaus schlüssig und geben seiner Studie ein tragfähiges Grundgerüst.
Über die oft allzu saloppe Betitelung der verschiedenen Kapitel mag man unterschiedlicher Meinung sein, wie auch sonst manche nebenher getroffene Feststellung mehr verwundert als erhellt. So fragt man sich, warum das Sachbuch "vermutlich die modernste Literaturgattung" (88, 93) des Nationalsozialismus gewesen sein soll, wie mehrfach ohne jede Begründung betont wird. Und nach welchen Kriterien etwa Fritz Otto Buschs Buch "Narvik. Vom Heldenkampf deutscher Zerstörer" bei Außerachtlassung moralischer Maßstäbe "handwerklich im Großen und Ganz sauber gemacht" (152) sein soll, bleibt ebenso ein Geheimnis. Solche unmotivierte Einschätzungen und Bewertungen werden immer wieder getroffen, völlig unvermittelt gar einmal auf "MP3-Downloads" (266) im Internet bezogen.
Fallen solche Bemerkungen letztlich nicht weiter ins Gewicht, so wiegen andere Punkte schwerer. Zunächst entledigt sich Adam leider des "Lesers", der doch eigentlich im Zentrum stehen sollte. Stattdessen wird in einem der einleitenden Kapitel die "Bettlektüre" [!] der NS-Führungsriege von Hitler über Goebbels bis zu Himmler in einer Form vorgestellt, die in manchen Abschnitten kaum über Trivialitäten hinaus kommt. Verzichtet der Autor schon auf eine soziale, regionale, alterspezifische oder sonstige Differenzierung und Analyse einer breiteren Leserschaft - immerhin, der Jugendliteratur werden ebenso einige Seiten gewidmet wie gegen Ende des Buches der Lektüre der Soldaten während des Krieges -, so wäre doch zumindest von Interesse gewesen, welche Lesegewohnheiten es in der zweiten und dritten Reihe der NS-Funktionäre gegeben hat. All das findet man nicht, und kann auch nicht durch zahlreiche Verweise auf Victor Klemperers Leseeindrücke zu diesem oder jenem Buch ersetzt werden, denn Klemperer war alles andere als ein typischer Literaturkonsument in der NS-Zeit. So bleibt denn der "Leser" letztlich nur über die Verkaufszahlen präsent. Der Rest erschöpft sich in gelegentlichen Pauschalformulierungen wie etwa zu Polly Maria Höflers "André und Ursula": "Sicher konnten viele bei der Lektüre ihrer eigenen Friedenssehnsucht nachhängen." (148)
Bleiben die Bücher, ihre Inhalte, Autoren und Verlage. Hier trägt Adam viel an Informationen zusammen, die sich bisher nur verstreut in verschiedenen Publikationen gefunden haben. Die Verkaufszahlen und kurze inhaltliche Abrisse der vorgestellten Bücher werden ergänzt durch biografische Angaben zu den Autorinnen und Autoren sowie durch Verweise auf Besprechungen in zeitgenössischen Buch- und Rezensionsjournalen, sodass meist ein durchaus informativer Überblick entsteht. Ein Blick in die Tiefe gelingt freilich selten. Daran hindert den Autor schon alleine sein Anspruch, sich mit nichts weniger als der "Gesamtheit des Geschriebenen und Gedruckten" (11) zwischen 1933 und 1945 beschäftigen zu wollen, mithin 350 Bücher, die dem genannten Auflagenkriterium in etwa entsprechen (wobei das weite Feld der Schul- und Lesebücher überraschenderweise ausgespart bleibt). Dazu kommt, dass neue Quellen nur in geringem Ausmaß erschlossen und ausgewertet werden, sodass Adam von den mehr oder weniger präzisen Darstellungen anderer weitgehend abhängig ist. Dadurch bleiben auch Vertriebs- und Lenkungsmechanismen meist unscharf, wenn etwa bei Johanna Haarers Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" (105) nicht darauf eingegangen wird, dass es vom Reichsmütterdienst intensiv beworben und in Großstädten wie München einige Zeit an Neuvermählte vergeben wurde. Ausführlichere Darstellungen wie im Kapitel "Wa(h)re Volksliteratur", die etwa die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Goebbels Reichsschrifttumskammer und Rosenbergs Amt für Schrifttumspflege über Wert und Bedeutung der Unterhaltungsliteratur deutlich werden lassen, finden sich leider zu selten.
Adam bietet erstmals eine Zusammenschau weit verbreiteter Bücher der NS-Zeit und zeigt dabei, wie uneinheitlich und manchmal sogar kontrovers sich die populäre Literatur dieser Zeit gestaltet hat. Den eigenen Ansprüchen wird er dabei allerdings ebenso wenig gerecht wie der Erwartung, zumindest in manchen Bereichen mehr als nur einen Überblick geboten zu bekommen.
Othmar Plöckinger