Thomas Kirchhoff / Ludwig Trepl (Hgg.): Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene (= Sozialtheorie), Bielefeld: transcript 2009, 353 S., ISBN 978-3-89942-944-2, EUR 29,80
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Natur und Landschaft haben derzeit Konjunktur - sowohl im Ausstellungswesen wie auch im akademischen Diskurs und über Fächergrenzen hinweg. Das neu erwachte Interesse hat sicher vielfältige Ursachen. An erster Stelle dürften dabei der Klimawandel und seine medial breit diskutierten Implikationen stehen. Sie beschäftigen nicht nur in ihrer lebensnahen (oder auch -fernen) Faktizität, sondern auch als Diskursformationen, die nach kulturgeschichtlicher Analyse verlangen. Die Problematisierung der Natur-Kultur-Dichotomie, die für die Künste schon lange ein zentrales Thema ist, liefert hier wichtige Ansatzpunkte.
In dem von den Münchener Landschaftökologen Kirchhoff und Trepl vorgelegten Sammelband geht es leider nur in einigen wenigen Beiträgen explizit um künstlerische bzw. kunsthistorische Zusammenhänge. Er kann gleichwohl anregend für ein breites Feld von Forschungskontexten, also auch der Kunstgeschichte, sein, denen es um eine differenzierte Perspektivierung von Natur und Landschaft geht.
In dem Sinne überaus hilfreich ist zunächst der "einleitende Überblick", in dem die beiden Herausgeber die kulturell bedingte "Vieldeutigkeit der Natur" umfassend herausarbeiten. Sie unterscheiden zwischen "Landschaft", "Wildnis" und "Ökosystem" als kulturgeschichtlichen Phänomenen der Auffassung von Natur und nutzen für deren Definition die Methode der "idealtypischen Begriffsbildung" von Max Weber. [1] Kombiniert mit gängigen Urteilsformen ergibt sich als Ausgangsprämisse, dass "Landschaft ein ästhetischer, Wildnis ein moralischer und Ökosystem ein theoretischer Gegenstand bzw. Begriff von Natur [ist]" (18). Darauf aufbauend präsentieren Kirchhoff und Trepl eine vergleichsweise detaillierte, dabei prägnante Begriffs- und Kulturgeschichte der Landschaft seit der Frühen Neuzeit, schildern die historisch divergierenden Qualitäten der Wildnis als Gegenwelt und Aspekte des Ökosystems als einer naturwissenschaftlichen Kategorie, die gleichwohl in Abhängigkeit von kulturellen Ideen formuliert und entsprechend kontrovers verhandelt wurde und wird.
Die insgesamt 19 Aufsätze des Bandes sind den drei Oberbegriffen zugeordnet, wobei "Natur als Landschaft" mit 12 Beiträgen den größten Komplex darstellt. Hier finden sich auch die kunsthistorischen Einlassungen. Dagmar Korbacher bringt den Aufschwung der venezianischen Landschaftsmalerei um 1500 (Bellini, Giorgione etc.) in Zusammenhang mit der zeitgleich forcierten Kultivierung und Urbarmachung des Landes auf der Terraferma. Die Villeggiatura, der Aufenthalt auf dem Lande, geriet für die venezianische Oberschicht zu einem Agrikultur und Architektur vereinenden Bildungserlebnis, dessen Erfahrung bzw. Vergegenwärtigung nun auch in der Malerei zu finden war. Wenn Korbacher angesichts der Giorgione-"Venus" und mit Rückgriff auf die Illustrationen der "Hypnerotomachia" das kultivierende Potential nicht nur der landschaftlichen, sondern auch der weiblichen Schönheit hervorkehrt, vermisst man ein gendertheoretisches Problembewusstsein, das die Implikationen dieser topischen Parallelführung zumindest andeutete.
Einen interessanten Beitrag liefert Miriam Volmert, die sich "Dünenlandschaften in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts" widmet und dabei vor allem nach der kulturanthropologischen Bedeutung des inszenierten Blicks fragt. Volmert kann zeigen, dass die Dünenlandschaft als Motiv und 'leere Landschaft' ein Sinnbild des holländischen Terrains darstellte und als solches, zumal vor dem Hintergrund des Spanisch-Niederländischen Krieges, eine identitätsstiftende Projektionsfläche bot. Mit dem Westfälischen Frieden und der darin besiegelten Unabhängigkeit der Vereinigten Niederlande geriet die Düne immer häufiger zum Betrachterstandpunkt, von dem aus der Blick auf neue holländische Kulturlandschaften gerichtet werden konnte.
Der Aufsatz von Andrea Siegmund gilt Kleinarchitekturen in Landschaftsgärten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Dabei geht es nicht um einzelne Bauten, sondern um die Frage, welcher Stil mit welchem Idealbild von Landschaft einherging. Siegmund unterscheidet Aufklärung, Empfindsamkeit, Romantik und Gegenaufklärung und skizziert die damit einhergehenden Subjektentwürfe und Landschaftsmodelle. Das wesentliche Ergebnis ihrer Überlegungen ist, dass der bei den landschaftlichen Kleinarchitekturen der Zeit zu beobachtende Stilpluralismus kein Ausweis konzeptueller Vermischung oder von Planungswechseln sein muss. Denn stilistisch unterschiedliche Architekturstaffagen sind mit jedem der geschilderten Ideallandschaftstypen kompatibel. Siegmund schlussfolgert: "[D]ie gärtnerisch gestaltete Landschaft [muss sich] in ihrer Erscheinung nicht grundsätzlich ändern [...], um zum Ausdruck eines anderen Weltentwurfs werden zu können." (178)
In dem vorzüglichen Überblicksartikel von Karin Raith geht es um integrative, also Stadt und Land zusammendenkende Landschaftskonzepte und darauf aufbauende Entwürfe von Architekten und Stadtplanern seit den 1990er-Jahren. Die vorgestellten Beispiele für eine "Verlandschaftlichung der Architektur" (228) reichen von der (nicht realisierten) "Gebauten Landschaft" für Freising (1993) von Hermann Hertzberger über Zaha Hadids spektakulären Pavillon für die Landesgartenschau 1999 in Weil am Rhein bis hin zum vom Architektenbüro MVRDV konzipierten Niederländischen Pavillon auf der EXPO 2000 in Hannover. Diese Auswahl macht u.a. deutlich, dass eine Architektur und Natur konsequent verknüpfende Bau- und Planungsweise nach wie vor selten, vorzugsweise im Ausstellungskontext und weniger im Bereich des Alltäglichen erfahrbar ist.
Lediglich hingewiesen sei hier noch auf den interessanten Beitrag von Markus Schwarzer, der eine diskursanalytische Betrachtungsweise der aktuellen Debatten über die Planung und Gestaltung von Bergbaufolgelandschaften vorschlägt. In dem Band herausragend ist zudem der Aufsatz des Germanisten Ludwig Fischer, der das Verhältnis von Landschaft und Arbeit reflektiert und dabei nicht nur die tätige Bearbeitung durch Landwirtschaft und Industrialisierung meint, sondern auch "die kulturell geformte Wahrnehmung von Landschaft als 'Arbeit' bezeichne[t]" (110). Fischers Überlegungen ließen sich vermutlich produktiv mit dem von Schwarzer aufgezeigten Problemhorizont verspannen.
Die "Natur als Wildnis" überschriebene Sektion hat - wie zu erwarten - eine gewisse Amerika-Lastigkeit. Hier vermisst man umso mehr einen Beitrag zur Konstruktion der Wildnis in der amerikanischen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts. Auch in der Abteilung "Natur als Ökosystem" hätte ein kunsthistorischer Beitrag das Themenspektrum substantiell bereichert. Eine kreative Auseinandersetzung mit Ökologie und den Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft lässt sich vor allem seit den 1960er-Jahren bei nicht wenigen Künstlerinnen und Künstlern beobachten.
Aber solche, hier durch die tendenziell enge Brille des Fachs wahrgenommenen Desiderate sind nicht zu vermeiden, und der Band strebt selbstverständlich keine Vollständigkeit an. Er überzeugt durch die Güte seiner Beiträge, die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus ganz unterschiedlichen Stadien einer akademischen Vita verfasst wurden und somit mal den Charakter eines Überblicks, mal den einer noch in der Entwicklung befindlichen Forschungsperspektive haben. Das stört überhaupt nicht.
Anmerkung:
[1] Max Weber: Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik [Tübingen], Bd. 19, 1904, 22-87.
Sigrid Ruby