Anika Leithner: Shaping German Foreign Policy. History, Memory and National Interest, Boulder, CO: First Forum Press 2009, 179 S., ISBN 978-1-935049-00-5, USD 55,00
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Diskurse über die nationale Geschichte prägen nationale Außenpolitik. Die USA leiten aus der Perzeption der eigenen Vergangenheit als Erfolgsgeschichte den Auftrag ab, die Welt von der Überlegenheit von Demokratien zu überzeugen, die Menschenrechte beachten und von freien Marktwirtschaften getragen werden. Ganz im Gegensatz dazu wird die deutsche Geschichte bis 1945 als Fehlentwicklung und beständige Warnung verstanden: Fixiert ausschließlich auf die Verbrechen des 'Dritten Reichs', steht deutsche Außenpolitik seit 1949, egal ob in Bonn oder (Ost)-Berlin konzipiert, stets unter dem Imperativ "nie wieder". Annika Leithner, Politologin an der Cal Poly at San Luis Ospigo, verweist wie schon viele vor ihr darauf, dass es zwar bei diesem Imperativ geblieben ist, dass sich aber die Schlussfolgerungen daraus in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt haben. Hieß "nie wieder" unter Bundeskanzler Helmut Kohl wie schon unter seinen sozialdemokratischen Vorgängern keine Beteiligung der Bundeswehr an friedensschaffenden Interventionen, insbesondere nicht in Teilen der Welt, die unter der Besatzung der Wehrmacht zu leiden hatten, leiteten sein Nachfolger Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer daraus geradezu die Pflicht ab, zur Verhinderung schwerer Menschenrechtsverletzungen notfalls als letztes Mittel der Politik Gewalt einzusetzen. Grundvoraussetzung für eine Beteiligung an derartigen humanitären Interventionen blieb allerdings ein Mandat der Vereinten Nationen oder zumindest - wie im Falle des Kosovokriegs - ein einstimmiger Beschluss der NATO.
Leithner versucht, dem gewandelten Geschichtsverständnis mittels der Diskursanalyse näher zu kommen. Angewendet wird diese auf die Bundestagsdebatten zum Kosovo-, zum Afghanistan- und zum Irakkrieg, denen jeweils ein eigenes Großkapitel gewidmet ist. Aufschlussreich ist, mit welchen Argumenten die Beteiligung beziehungsweise Nichtbeteiligung begründet wurden: Da ist einmal die aus der eigenen Geschichte gewachsene Verpflichtung, einerseits massive Menschenrechtsverletzungen aktiv zu verhindern, andererseits anderen zu ermöglichen, einen Prozess des Umdenkens wie in der Bundesrepublik nach 1949 einzuleiten. Zweitens ging es um die Wahrung des aktuellen Status' Deutschlands in der Weltgemeinschaft, der sich u.a. auf Bündnistreue und der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten gründet. Schließlich tauchten am Rande und oft schamhaft verbrämt auch nationale Interessen in den Debatten auf - ein Terminus, der in der politischen Kultur der Bundesrepublik mehr oder weniger zu einem Unwort verkommen ist. Ob man - wie hier geschehen - nur von nationalen Interessen sprechen kann, wenn diese explizit so genannt werden, oder ob sich diese nicht auch in Bündnistreue zum wechselseitigen Nutzen und der Förderung von Marktwirtschaften wiederfinden, wäre eine interessante Frage, die aber im Rahmen dieser Untersuchung möglicherweise zu weit geführt hätte. Leithner zeichnet nach, wie sich die Schwerpunkte der Argumente zwischen diesen drei Polen verlagern: Spielte für den Kosovo-Krieg noch die historische Verantwortung Deutschlands die zentrale Rolle, standen im Falle Afghanistans die Bündnisverpflichtungen im Vordergrund. Interessant sind ihre Erkenntnisse zur ersten wirklich kontroversen Debatte um eine Beteiligung am Irak-Krieg: Während Rot-Grün das Fernbleiben unter Berufung auf die Vereinten Nationen begründete, forderte Schwarz-Gelb die Beteiligung mit Hinblick auf die Bündnistreue insbesondere gegenüber den USA. Leithner nennt die Argumentation treffend assertiver.
Auch sonst wirft die Autorin relevante Fragen danach auf, wie die Umdeutung der aus der deutschen Geschichte zu ziehenden Konsequenzen zu erklären ist. Dazu gehören die nach einem Generationswechsel in der Politik, dem Einfluss von Frauen und Männern, von Politikern mit einer west- oder einer ostdeutschen Prägung. Hier jedoch stößt Leithner, wie sie bemerkenswerterweise selbst einräumt, an die vielen zu engen Grenzen ihrer Betrachtung: Stärkere personelle Brüche im Bundestag gingen mit den Wahlen von 1998 und 2005 einher. Insofern hätte eine Analyse der unterschiedlichen Perspektiven der Generationen einen Vergleich der Debatten vor und nach diesen Zäsuren nahegelegt. Aber auch innerhalb der sieben Regierungsjahre von Rot-Grün hätten hier durchaus Ergebnisse erzielt werden können, hätte die Verfasserin sich nicht ausschließlich auf Bundestagsdebatten beschränkt.
Dies macht ohnehin wenig Sinn: Nicht erst unter dem "Medienkanzler" Schröder fanden zentrale öffentliche Debatten außerhalb des Parlaments statt - typischerweise verkündete der Kanzler seine Entscheidung zum Fernbleiben vom Irak-Krieg nicht im Bundestag, sondern auf einem Marktplatz in Goslar. Leithner erwähnt durchaus, dass dieser letzte Konflikt im Bundestag kaum debattiert worden sei, weil der Bundestag darüber nicht mehr zu entscheiden hatte - Konsequenzen hat sie daraus nicht gezogen. Bei Bundestagsdebatten um so zentrale Fragen wie Krieg und Frieden treten Kanzler, Minister, Partei- und Fraktionschefs ans Pult. Dieses Dutzend Redner als repräsentativ für den öffentlichen politischen Diskurs in Deutschland insgesamt zu nehmen, ist nicht nur nicht akzeptabel, sondern führt zentrale Fragestellungen ad absurdum. Solange etwa nur die Äußerungen von Angela Merkel als einziger Frau und Ostdeutscher herangezogen werden, lassen sich über die Haltung von Frauen und Ostdeutschen keine Aussagen treffen. Junge Abgeordnete, meist noch Hinterbänkler, kommen bei solchen Gelegenheiten in der Regel überhaupt nicht zu Wort, in den Medien haben sich einige aber durchaus geäußert. Demgemäß kann Leithner diese wichtigen Fragen nicht beantworten, was sie auch freimütig einräumt. Zumindest aber wäre hier der Hinweis Pflicht gewesen, welche Funktionen die immer gleichen Redner innehatten und welchen Gruppierungen sie innerhalb ihrer Parteien zuzurechnen waren. Es machte eben einen Unterschied, ob sich bei den Grünen der "Realo" Fischer oder der "Fundi" Vollmer für den Kosovo-Krieg einsetzten. Und von der gebürtigen Bambergerin Leithner hätte man durchaus erwarten können, dass sie Michael Glos von der CSU nicht über das ganze Buch hinweg fälschlich der CDU zuordnet. Die CSU mag vergleichsweise wenige Abgeordnete stellen - ihre außenpolitischen Vorstellungen sind aber traditionell keineswegs deckungsgleich mit der großen Schwester und werden auch offen formuliert.
Kurz gesagt leisten diese drei Hauptkapitel nicht, was Aufgabe der Untersuchung sein sollte, nämlich einem englischsprachigen Publikum den politischen Diskurs in der Bundesrepublik zum Thema Krieg und Frieden verständlicher zu machen. Zu empfehlen ist im Gegensatz dazu das Schlusskapitel, das sich fast im Stile eines Essays mit den Entwicklungen nach 2005 befasst: Hier zeigt sich Leithner in allen außenpolitischen Fragen ausgesprochen kompetent. Gelöst vom Prokrustesbett der schematischen, rein quantitativen Analyse erhält der Leser nun teils genau die Antworten, die die Autorin zuvor schuldig geblieben ist, so etwa zur tendenziell anderen Haltung vieler Ostdeutscher zu humanitären Interventionen, die auf der anderen Prägung in der DDR fußt. In diesem Stile würde man gern mehr von Anika Leithner lesen.
Amit Das Gupta