Annemarie Nooijen: "Unserm grossen Bekker ein Denkmal"? Balthasar Bekkers "Betoverde Weereld" in den deutschen Landen zwischen Orthodoxie und Aufklärung (= Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas; Bd. 20), Münster: Waxmann 2009, 514 S., ISBN 978-3-8309-2225-4, EUR 39,00
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Der reformierte Pastor Balthasar Bekker (1634-1698) gilt als der schärfste Kritiker des Hexenglaubens um 1700, da er in seinem 1691-1693 erschienenen dreibändigen Werk De Betoverde Weereld dem Teufel und den bösen Geistern auf der Grundlage des cartesianischen Geistbegriffs jede körperliche Wirkung absprach und damit dem Hexenglauben (jedenfalls sofern man seiner Argumentation zu folgen bereit war) die theologisch-philosophische Grundlage entzog. Dessen ungeachtet wurde seine Wirkung lange Zeit als eher gering eingeschätzt, wohl nicht zuletzt deshalb, weil Bekker selbst in den Niederlanden wenig Unterstützung fand und auf Betreiben des Amsterdamer Kirchenrats schließlich seines Predigtamtes enthoben wurde. Dabei ist gerade die meist etwas schablonenhaft als Kampf zwischen Orthodoxie und Frühaufklärung betrachtete Kontroverse um den Hexenglauben in Deutschland ohne den Bezug auf Bekker nicht zu erklären. So hatte sich Christian Thomasius, dessen Disputation De Crimine Magiae (1701) gewöhnlich als Durchbruch frühaufklärerischer Aberglaubenskritik gedeutet wird, bereits 1696/97 in seinem Versuch von Wesen des Geistes mit Bekker auseinandergesetzt, dabei freilich dessen Pneumatologie noch äußerst kritisch gegenübergestanden.
Auf die grundsätzliche Bedeutung Bekkers für die deutschen Debatten hat vor über zehn Jahren bereits Wiep van Bunge in seiner Edition der ersten deutschen Ausgabe der Bezauberten Welt (1693) hingewiesen; deren Rezeption seitens vor allem norddeutsch-protestantischer Autoren war aber, wie Annemarie Nooijen nun in ihrer an der Radboud Universiteit Nijmegen entstandenen Dissertation eindrucksvoll zeigt, noch weit lebhafter, als es die äußerst kenntnisreichen, zugleich aber notwendigerweise kurzen Ausführungen van Bunges bislang erkennen ließen. Publizistische Reaktionen setzten unmittelbar nach der Veröffentlichung des Werkes bzw. der nahezu zeitgleichen Übersetzung ein und hielten mit nur wenigen Unterbrechungen über fast ein Jahrhundert bis in die 1780er Jahre an, zu deren Beginn eine zweite deutsche Ausgabe von Bekkers Schrift unter Mitarbeit des halleschen Neologen Johann Salomo Semler erschien (eine dritte, zeitlich dazwischenliegende ist nach Angaben van Bunges verschollen).
In ihrer materialreichen, zugleich flüssig geschriebenen Untersuchung stellt Nooijen einen beachtlichen Ausschnitt dieses Rezeptionszusammenhanges dar, wobei sie trotz des unausweichlichen Verzichts auf Vollständigkeit der bereits bekannten Riege der Bekker-Rezipienten eine Reihe bislang unbeachteter Autoren hinzufügen kann. Dabei unterscheidet sie im Wesentlichen drei Phasen der Rezeption, die sie im Anschluss an eine Kontextualisierung Bekkers in die "niederländischen philosophisch-theologischen Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts" [35-152] und eine philologisch sorgsame Textgeschichte der beiden deutschen Übersetzungen ausführlich beschreibt. Dabei gelingt es ihr, die bisherige Forschung zur Debatte um den Hexen- und Teufelsglauben hinsichtlich der Differenziertheit der geschilderten Positionen und der Zahl der einbezogenen Texte weit zu übertreffen. So sieht sie richtig, dass Christian Thomasius mit seiner Kritik an den Hexenverfolgungen um 1700 keineswegs allein stand, sondern dass neben ihm nicht zuletzt eine Reihe anderer hallescher Professoren Stellung bezog, und sie verkennt auch nicht, dass diese durchaus divergierende Auffassungen vertraten.
Allerdings beschränkt sich die Darstellung der untersuchten Texte durchweg auf das Referieren inhaltlicher Aussagen bzw. Positionen. Eingehendere Textanalysen unterbleiben ebenso wie die Frage nach der Verbindung inhaltlicher Argumente mit den Bedingungen gelehrter Wissensproduktion und ihren Praktiken, etwa publizistischen Strategien oder hegemonialen Deutungsansprüchen, als hätten Argumente nicht auch etwas mit ihrer Durchsetzung im - hier muss das Wort einfach fallen - Diskurs zu tun. Dabei wäre vielleicht gerade hier die Erklärung dafür zu suchen, warum sich bestimmte Autoren an der Debatte um die Bezauberte Welt beteiligten. So stellt Nooijen fest: "Die Hexendebatte lief hauptsächlich im akademischen Bereich, und zwar im liberalen Klima an der juristischen und der philosophischen Fakultät in Halle ab" (220); die - von ihr wie gesagt durchaus zur Kenntnis genommene - Tatsache, dass in diesem Klima ganz unterschiedliche Positionen vertreten wurden, bleibt aber für die Interpretation folgenlos, weil sie grundsätzlich nicht als erklärungsbedürftig erkannt wird. Auch der Umstand, dass Thomasius innerhalb weniger Jahre seine Position zu Bekkers Pneumatologie radikal änderte, wird zwar mehrmals erwähnt (202, 220, 224), aber letztlich in seiner Widersprüchlichkeit ebenfalls nicht weiter hinterfragt.
Angesichts des gewaltigen zu überblickenden Stoffs ist es nicht verwunderlich und wohl auch kaum zu vermeiden, dass es darüber hinaus im Detail zu einigen Ungenauigkeiten kommt. So referiert Nooijen Thomasius' spätere Selbstaussage, er sei erstmals 1694 mit Hexenprozessen in Berührung gekommen, zwar korrekt, verlegt diesen Vorfall dann aber nach Leipzig, obwohl Thomasius zu dieser Zeit schon seit vier Jahren in Halle wirkte - wahrscheinlich wegen seines Rekurses auf den Leipziger Carpzov, bei dem es sich aber eben nicht um den Leipziger Kontrahenten von Thomasius handelte, sondern um dessen Onkel Benedikt, den juristischen Hauptbefürworter des Hexenprozesses. Schwerer wiegt die äußerst problematische - und im Übrigen unbelegte - Einschätzung, das "von ihm [Thomasius] geleitete Spruchkollegium in Halle" habe nicht nur wiederholt die Folter angeordnet, sondern auch "entsprechende Todesurteile [verhängt], die noch bis etwa 1720 vollstreckt wurden" (232). Dies ist, da die halleschen Spruchakten nur fragmentarisch überliefert sind, prinzipiell zwar denkbar, wird aber durch die bekannten Quellen nicht gedeckt und ist daher vermutlich auf eine missverstandene Passage in der Sekundärliteratur zurückzuführen. [1]
Es bleibt das unbestreitbare Verdienst der Arbeit, den Rezeptionsstrom in seiner ganzen Breite und Verzweigung darzustellen und damit die immense Bedeutung Bekkers für die deutschen Debatten erstmals in vollem Umfang sichtbar zu machen. Dies ist, angesichts der Fülle des Materials, durchaus viel und hinsichtlich des Lektürepensums zweifellos eine enorme Leistung. Die sich daran anschließenden und - zumindest aus Sicht des Historikers - spannendsten Fragen bleiben allerdings weitgehend unbeantwortet, da die Studie methodisch trotz des expliziten Bekenntnisses zur Kontextualisierung letztlich in den Bahnen einer eher konventionellen Ideengeschichte bleibt: Texte unterscheiden sich hinsichtlich der zum Ausdruck gebrachten Auffassungen und der dafür gebrauchten Argumente, sind ansonsten aber weitgehend abgelöst von den Bedingungen ihrer Entstehung ebenso wie von intertextuellen Bezügen. Dem entspricht die Anordnung des Materials nach 'inhaltlichen' Positionen, nicht nach den kommunikationsgeschichtlichen (Debatten-) Zusammenhängen. Die Frage nach der gesellschaftlichen Wirkung von Texten bzw. Argumenten wird daher zwar gestellt, es fehlt aber das methodische Instrumentarium, ihr wirklich nachzugehen. Die diesbezüglichen Aussagen setzen daher in der Nachfolge der älteren rechtsgeschichtlichen Literatur - und durchaus im Widerspruch zur neueren Hexenforschung - eine solche Wirkung einfach voraus, ob es sich nun um Bekker - "Bei der in den deutschen Landen lange anhaltenden Hexenverfolgung eignete Bekker hier zudem eine eminent gesellschaftliche Wirkung" (451) - oder Thomasius handelt: "Als Christian Thomasius in De Crimine Magiae explizit das Laster der Zauberei leugnete und dem Teufel die Fähigkeit, auf Körper einzuwirken und Gestalt anzunehmen, absprach, brach die traditionelle Teufels- und Hexenlehre zusammen. " (229)
Anmerkung:
[1] Sönke Lorenz: Die letzten Hexenprozesse in den Spruchakten der Juristenfakultäten. Versuch einer Beschreibung, in: Ders. und Dieter R. Bauer (Hgg.): Das Ende der Hexenverfolgung, Stuttgart 1995, 227-247. Dort heißt es auf 237: "Der erste Abschnitt [der Entwicklung der Spruchtätigkeit im 18. Jahrhundert, MM] reicht ungefähr bis in die Zeit um 1720 und ist durch Entscheidungen der Spruchkollegien gekennzeichnet, in denen in bestimmten Fällen weiterhin auf die Folter oder gar die Hinrichtung erkannt wird - auch durch das von Christian Thomasius geleitete Spruchkollegium in Halle, wie noch auszuführen bleibt." Auf 241f. wird diese Aussage dann allerdings dahingehend spezifiziert, dass das von Thomasius seit dem Tod Samuel Stryks im Juli 1710 geleitete Spruchkollegium 1712 eine Folterempfehlung aussprach - von Hinrichtungen ist nicht die Rede.
Markus Meumann