Adrian Favell: Eurostars and Eurocities. Free Movement and Mobility in an Integrating Europe (= Studies in Urban and Social Change), Hoboken, NJ: John Wiley & Sons 2008, XVI + 279 S., ISBN 978-1-4051-3404-0, GBP 19,99
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Im Jahr 2008 hat Adrian Favell, Soziologe an der UCLA, eine Studie vorgelegt, die das Reden von der europäischen Integration mit der Lebenswirklichkeit von mobilen Europäern abgleichen will. Dafür hat er sechzig Interviews geführt, mit "Eurostars", wie er sie nennt. Damit bezeichnet er die Gruppe von hochmobilen Arbeitnehmern, die sich, so Favell, vom Nationalstaat emanzipiert haben und in den wirtschaftlichen und kulturellen Zentren des neuen Europa - in den "Eurocities" London, Amsterdam und Brüssel - ihr Glück suchen. Er interessiert sich für ihre Motivationen, ihre Vorstellungen von Freiheit und immer auch dafür, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben. Denn eigentlich geht es Favell vor allem darum, warum auch nach mehr als fünfzig Jahren der europäischen Integration der Anteil der Mobilen gegenüber denjenigen, die die neuen Möglichkeiten nicht nutzen, so extrem gering ist: Weniger als zwei Prozent der Europäer leben und arbeiten im europäischen Ausland (X). Diese geringe Zahl von mobilen Europäern lässt Favell an der Realisierbarkeit einer europäischen Gesellschaft überhaupt zweifeln.
Favell schildert in vierzehn Kapiteln die Situation der "Eurostars" von unterschiedlichen Warten aus. Nach Charakterisierungen der Eurocities Amsterdam, London und Brüssel beschäftigt er sich mit räumlicher und sozialer Mobilität, mit Problemen der Integration in zwischenmenschlicher und sozialstaatlicher Hinsicht, mit katastrophalen Zuständen auf den Wohnungsmärkten und der Engstirnigkeit der aufnehmenden Gesellschaften. Jedes Kapitel endet mit einem längeren Ausschnitt aus einem Interview, der die Problematik des Kapitels noch einmal individuell vertieft. Gerade diese Abschnitte bieten faszinierende Einblicke in die Lebenswirklichkeiten der Befragten.
Die "Eurostars", so Favell, genießen eine ordentliche Portion Freiheit - nicht nur die Freiheit, ohne größere Kontrollen Grenzen zu überschreiten und sich niederzulassen. Vor allem geht es ihm um die Freiheit, die entsteht, indem sich die "Eurostars" von ihrer nationalen Identität lossagen. Das Europa, das Favell ersehnt und dessen Entstehung er zu beobachten versucht, setzt er mit dem Postnationalen gleich. "Their Europe is one beyond such frontiers, a post-national space, in which individuals are building lives using their rights against the nation - an extension of the logic of human rights." (20) Diese Glorifizierung des Post-Nationalen und die Gleichsetzung von "borders" mit "frontiers" ist es, was die Lektüre manchmal unnötig ärgerlich macht und Widerspruch heraufbeschwört. Aber die Nationalstaaten der Hochmoderne haben für Favell auch etwas Gutes, und dieses Gute macht den "Eurostars" die Mobilität manchmal recht schwer: Der Nationalstaat ist in Mitteleuropa gleichzeitig der Wohlfahrtsstaat, und verlässt man die Grenzen des einen, verliert man auch die Annehmlichkeiten des anderen. Dies, so Favell, behindere die Mobilität in Europa, die Integration in ein anderes wohlfahrtsstaatliches System mit Steuern, Sozialversicherungen und sozialer Infrastruktur gelinge nur in den seltensten Fällen. Vielleicht sei dies ein Grund dafür, dass so viele "Eurostars" kinderlos blieben. Auch die soziale Eingliederung in die neuen Lebensräume gelingt den "Eurostars" häufig nicht - die Integrationsschwierigkeiten bleiben groß, selbst wenn die "Eurostars", was nicht immer der Fall ist, die Landessprache beherrschen. Die meisten von ihnen, so hat es den Anschein, bleiben in einer Blase von Gleichgesinnten gefangen; die Sozialkontakte beschränken sich meist auf andere Auswanderer, auch wenn diese nicht immer aus den gleichen Herkunftsländern stammen.
Favell geht ethnologisch vor - sowohl bei der Erforschung der "Eurocities", den Habitaten der "Eurostars", als auch beim Aufspüren der Interviewpartner und den Gesprächen mit ihnen. Dadurch kann er Lebensläufe in den Blick nehmen, die über klassische Recherchewege - etwa über administrative Stellen - nicht auffindbar gewesen wären. Vor allem über das Schneeballsystem und informelle Netzwerke, etwa Online-Foren, fand er Kontakte zu seinen Untersuchungsobjekten. Diese Methode reflektiert er in einem eigenen Anhang (236-239). Dort erfährt man, dass er sich auch bemüht hat, größere Ungleichgewichte, etwa der Geschlechter- und Altersstruktur, auszugleichen. Trotzdem konzentriert er sich auf eine ziemlich homogene Gruppe von gut ausgebildeten, in den meisten Fällen jungen Menschen aus Nord-, West- und Südeuropa (Osteuropa spart er aufgrund der zum Untersuchungszeitpunkt eingeschränkten Mobilitätsbestimmungen aus [XI]), die im Dienstleistungssektor tätig sind, meist im mittleren Management. Obwohl Favell immer wieder betont, die Gruppe der "Eurostars" sei heterogen und im Grunde höchst individuell, bleibt der Eindruck, als blieben größere Gruppen mobiler Europäer unsichtbar. Was ist beispielsweise mit Handwerkern, die Aufträge in ganz Europa annehmen, was mit Beschäftigten im Gesundheitssektor, deren Abwandern von der Gesundheitspolitik beklagt wird? Studierende und die europäischen Mobilitätsprogramme werden zwar erwähnt, aber nicht selbst zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Zudem suchte Favell auch nicht diejenigen auf, die scheiterten und ihre mobile Existenz wieder gegen die Heimat tauschten. Damit können die "Eurostars" kaum als repräsentativ für die Gruppe der mobilen Europäer gelten. Zumindest sind sie aber eine interessante Untersuchungsgruppe, deren durchaus ambivalente Erfahrungen das "Europa im Werden" mit Leben füllen.
Die Lektüre von Favells Buch hinterlässt viele Fragezeichen - im positivsten Sinne. Die Untersuchung, die als soziologisch-ethnologische Studie für sich stehen kann (dabei aber ein anderes Projekt, das eher quantitativ vorgeht, flankiert und ergänzt [1]), bietet viele Einstiegsluken in faszinierende Untersuchungsgegenstände. Bislang wurde die europäische Geschichte zumeist doch als Geschichte mehrerer geographisch benachbarter Nationalstaaten, als Geschichte eines kulturellen Deutungsraumes oder als Geschichte eines administrativen Apparates geschrieben. Dabei geraten die Praktiken der Europäisierung auf individueller Ebene, abseits von Mandatsträgern und Europa-Experten, nur allzu selten in den Blick. Hier lohnt es sich auch für die Geschichtswissenschaft einzuhaken, denn Mobilität in Europa hat es auch vor der Zeit der grenzüberschreitenden Hochgeschwindigkeitszüge und der Billig-Airlines gegeben, deren Bedeutung Favell für die Mobilität der "Eurostars" so sehr hervorhebt. Dieses "Europa von unten" sollte sich die Geschichtswissenschaft als Thema dringend vornehmen - und sich dabei nicht nur auf Gruppen wie die von Favell untersuchten Hochmobilen konzentrieren.
Favells Panorama der hochmobilen Bevölkerungsminderheit in Europa ist ein gut lesbares und unterhaltsames Buch. Für Historiker ist es nicht nur interessant, weil es eine Fülle von Fragen aufwirft, die die Geschichtswissenschaft in den nächsten Jahren beschäftigen sollte. Darüber hinaus gehören Historiker selbst potentiell zu den "Eurostars" - zeitlich begrenzte Aufenthalte oder längerfristige Beschäftigungen im inner- und außereuropäischen Ausland gehören zur wissenschaftlichen Karriere inzwischen schon fast dazu. Insofern ist die Lektüre von Eurostars and Eurocities ein faszinierender Blick in Lebensläufe, die dem eigenen zumindest ansatzweise ähneln - auch wenn interessanterweise kein Wissenschaftler unter den Interviewten war.
Anmerkung:
[1] Gemeint ist das Projekt PIONEUR, eine quantiative Studie zur innereuropäischen Migration. Vgl. http://www.obets.ua.es/pioneur (Abruf 8.2.2011).
Anette Schlimm