Hans Peter Hye / Brigitte Mazohl / Jan Paul Niederkorn (Hgg.): Nationalgeschichte als Artefakt. Zum Paradigma "Nationalstaat" in den Historiographien Deutschlands, Italiens und Österreichs (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Historische Kommission. Zentraleuropa-Studien; Bd. 12), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2009, 364 S., ISBN 978-3-7001-6525-5, EUR 40,00
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Gabriele Haug-Moritz / Hans Peter Hye / Marlies Raffler (Hgg.): Adel im "langen" 18. Jahrhundert, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2009
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Zentrales Thema dieser Aufsatzsammlung ist der "Einfluss von Geschichtswissenschaft und geschichtswissenschaftlichen 'Meistererzählungen' für die Konstituierung von Nationen und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert" (3), unter besonderer Berücksichtigung Deutschlands, Österreichs und Italiens auf dem Wege ihrer Nationenbildung. Zehn von den insgesamt dreizehn Beiträgen plus Einleitung gehen die unterschiedlichen nationalen Geschichtsschreibungen zum Teil analytisch, zum Teil vergleichend an. Die drei im abschließenden Teil versammelten Aufsätze umreißen hingegen die Entwicklungen der historiographischen Paradigmen der Nationen des 20. Jahrhunderts.
Der Band lässt sich in einige Fragestellungen gliedern, die sich wie rote Fäden durch den Band ziehen: Helmut Rumplers Aufsatz bietet einen von diesen mit seiner Unterscheidung zwischen der Rolle, die die europäische Historiographie bei der Entwicklung der Idee der Nation spielte, und jener, die sie in deren Deformation zu nationalistischer Ideologie einnahm. Eckpunkte jener Transformation seien die Krise der auf dem Wiener Kongress etablierten politischen Ordnung, welche durch den Krimkrieg 1854-56 ausgelöst wurde, und die Entwicklung einer Weltpolitik durch die europäischen Staaten gewesen. Jedoch tendiert Rumpler dazu, den Beitrag der Historiographie zur Entwicklung des Nationalismus im Vergleich mit anderen Disziplinen und literarischen Genres zu marginalisieren. Er stützt seine These auf die Untersuchungen von Anderson und Lemberg, die die beherrschende Rolle der Lexikographen, Grammatiker, Philologen, Schriftsteller und Politiker herausstellen.
Lässt sich jedoch der Beitrag der Historiographie zur nationalistischen Ideologie tatsächlich als so gering einstufen? Die in diesem Band versammelten Beiträge bieten zu dieser Frage unterschiedliche Antworten aus verschiedenen Perspektiven an:
Dass die Geschichtsschreibung eine wichtige Rolle im Prozess der Legitimierung der Nation spielte, machen Brigitte Mazohl und Thomas Wallnig in ihrem Beitrag über die Entstehung der Meistererzählung österreichischer Nationalgeschichte im 19. Jahrhundert klar. Die Konstruktion einer Geschichte nationaler Vergangenheit verlieh - so lautet die These - dem Staat seine eigene Identität. Auch die Wiederaneignung des Mittelalters wurde so zu einem Teil innerhalb jener Konstruktion eines Paradigmas nationaler Geschichte. Diese Wiederaneignung, die Werner Maleczek am Beispiel Deutschlands und Österreichs untersucht, weist in den beiden Staaten unterschiedliche Merkmale auf. Dies hängt einerseits mit der historisch verschieden weit zurückreichenden Geschichte der beiden Nationen zusammen, andererseits mit der unterschiedlichen Nähe der Historiographie zur herrschenden Klasse (in Österreich gab es mehr Misstrauen) wie auch mit der Herkunft der führenden Vertreter der Geschichtswissenschaft in Österreich, die ein von der Regierung erwünschtes Projekt der Stärkung des Staatsbewusstseins nicht vorbehaltlos unterstützten.
Die Beziehung der Historiographie zur Politik lässt sich auch anhand der Institutionalisierung nationaler Geschichtsschreibung mittels besonderer Forschungsinstitute und Einrichtungen analysieren: Gabriele B. Clemens erinnert daran, dass sich das Aufkommen eines Modells nationaler Geschichtsschreibung nicht ohne Konflikte vollzog, zumindest in Deutschland: Andere geschichtswissenschaftliche Perspektiven, speziell die Universalgeschichte, die Rechtsgeschichte und die Regionalgeschichte stellten eine Herausforderung, wenn nicht gar eine Antithese zu jenem Modell dar. Auch Jörn Leonhard vergleicht nationalistisch geprägte Projekte wie die von Luden und Häusser, die die Aufhebung der Regionalgeschichte in der Nationalgeschichte unterstützen, mit anderen Ansätzen, die zwar ebenfalls ein bestimmtes Maß an Politisierung aufweisen, aber mit anderer Akzentuierung. Das war der Fall von Ranke über Burkardt und Droysen bis hin zu Treitschke, dem nationalistischsten unter ihnen.
Was Österreich betrifft, wie verknüpften sich die Entwicklung der Nationalpolitik mit der Förderung der Historiographie? Georg Christoph Berger Waldenegg untersucht diese Beziehung am Beispiel des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Dabei zeigt er, dass sein Forschungsprogramm mit einem vom österreichischen Neoabsolutismus unterstützten, politisch eindeutigen Projekt zur "Nationalisierung" zusammenfiel. Dies galt besonders hinsichtlich des Ziels, die affektive Zustimmung der Öffentlichkeit zu einer Nationalgeschichte zu gewinnen. Doch waren die Umsetzung dieses Programms und seine Resultate nicht immer überzeugend, was sowohl an der Schwierigkeit lag, ausreichend Geldmittel und geeignete Kandidaten zu finden, als auch an den Beziehungen zur Politik.
Die Konstruktion der italienischen Nationalgeschichte wird hingegen anhand des Beitrags von Schriftstellern, Dichtern sowie Literaturhistorikern betrachtet. Dabei bleibt die These, im Fall Italiens hätten Literaten eine wesentlichere Rolle in der Bildung der nationalen Selbstdarstellung gespielt als professionelle Historiker und Institutionen implizit. Die in italienischer Sprache verfassten Beiträge von Guido Lucchini und von Michele Metzeltin untersuchen einige gewichtige Klassiker, die zur Konstruktion der Idee der italienischen Nation beitrugen: Tiraboschi, Foscolo, Manzoni, Carducci. Diese Idee der Nation erhielt ihre historische Darstellung und Legitimierung in De Sanctis' "Geschichte der italienischen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart".
Der abschließende Teil des Bands liefert eine Reflexion über das Fortwirken der nationalen Perspektive im Kontext der italienischen und österreichischen Geschichtsschreibung. Deutlich wird darin, dass die Diskussion um eine Nationalgeschichte noch immer sehr lebhaft geführt wird, wenngleich in ihr nicht nur Lobeshymnen, sondern durchaus auch kritische Stimmen zu hören sind. Auch bilden die Dynamiken der Globalisierung einen breiter gefassten Kontext, in den nationale Paradigmen sich erst noch einzuschreiben haben.
Insgesamt finden sich die von den Herausgebern eingangs formulierten Thesen in den Beiträgen des Sammelbands zur Prüfung gestellt: a) Es gab und gibt auch heute noch eine "bestimmte Form von Geschichtsschreibung", die als "Begründung und Rechtfertigung" der Nation dient (9). Aus der Gesamtheit der Aufsätze entsteht jedoch der Eindruck, dass trotz ähnlicher Zielsetzungen und Modalitäten die Entwicklung der Geschichtsschreibung von Nation zu Nation doch hinsichtlich spezifischer Aspekte variiert und vor allen Dingen auch nicht frei von Widersprüchen und Ungereimtheiten ist. b) Eine vergleichende Untersuchung der Entwicklung jener narrativen Paradigmen und deren Wirkungsweisen in der Gesellschaft könnte einem besseren Verständnis der Besonderheiten wie der gemeinsamen Merkmale des Phänomens dienen; diesen komparativen Ansatz vollständig zu entwickeln, steht jedoch noch aus, speziell hinsichtlich der nationalen Blickwinkel und der Unterschiede in den Kontexten. c) Die Nationalgeschichte ist keineswegs ausschließlich das Geschäft professioneller Historiker, sondern ein Feld, auf dem auch andere Disziplinen wie etwa Literatur und Kunst eine Rolle spielen.
Marco Platania