Rezension über:

Heiner Fangerau: Spinning the scientific web. Jacques Loeb (1859-1924) und sein Programm einer internationalen biomedizinischen Grundlagenforschung, Berlin: Akademie Verlag 2010, 280 S., ISBN 978-3-05-004528-3, EUR 59,80
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Rezension von:
Philipp Osten
Institut für Geschichte der Medizin, Ruprecht-Karls Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Michael C. Schneider
Empfohlene Zitierweise:
Philipp Osten: Rezension von: Heiner Fangerau: Spinning the scientific web. Jacques Loeb (1859-1924) und sein Programm einer internationalen biomedizinischen Grundlagenforschung, Berlin: Akademie Verlag 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 3 [15.03.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/03/16389.html


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Heiner Fangerau: Spinning the scientific web

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"Amerika hat in den letzen Jahren eine ganze Anzahl herausragender Wissenschaftler hervorgebracht. Jacques Loeb ist wahrscheinlich der wichtigste von ihnen. Ich sehe die Zeit kommen, in der Amerika Europa in den Wissenschaften überstrahlt." [1] Diese Sätze entlockte der New York Times Korrespondent Herman Bernstein während eines Frühstücksinterviews im Sommer 1909 dem Direktor des Pariser Institut Pasteur, Ilja Iljitsch Metschnikow. Es war zuvorkommend von Metschnikow, positiv über Jacques Loeb zu sprechen. Insgesamt 78-mal wurde Loeb für den Nobelpreis nominiert, ohne den Preis je zu erhalten. Metschnikow war er gerade verliehen worden.

Erst auf Umwegen kam Jacques Loeb postum doch noch zu Ehren der Schwedischen Akademie. Sinclair Lewis bekam 1930 den Literaturnobelpreis "für seine eindringliche und plastische Kunst zu schreiben und für seine Gabe mit Scharfsinn und Humor neue Charaktere zu erschaffen". Eine Hauptfigur seines Romans Arrowsmith, der unter Beihilfe von Loebs ehemaligem Assistenten am Rockefeller Institute for Medical Research, Paul de Kruif, entstand, ist der Forscherpersönlichkeit Jacques Loeb nachempfunden. So weitgehend, dass Wikipedia Arrowsmith als "bleibendes literarisches Portrait" des Experimentalphysiologen bezeichnet.

In dem hier rezensierten Buch bekam Arrowsmith einen eigenen Eintrag im Personenregister. Virtuos untersucht Heiner Fangerau die Rolle des Romans für die Wahrnehmung Jacques Loebs (dem die Figur des aus Deutschland emigrierten Max Gottlieb nachempfunden ist) und des Rockefeller Instituts für medizinische Forschung, das im Roman als McGurk Institut persifliert wird. Das Bild von dem unbestechlichen Forscher, der sein von der Privatwirtschaft finanziertes Forschungsinstitut, als Speisesaal der Eitelkeiten wahrnimmt, wie Sinclair Lewis es zeichnet, vergleicht Fangerau mit der institutionellen Korrespondenz Jacques Loebs, der auf die Repräsentationspflichten der Rockefeller Foundation mit Ironie reagiert. Der literaturhistorische Exkurs ist allerdings nur eine Nebenhandlung des hier rezensierten Werkes.

Berühmt ist der 1859 in der Nähe von Koblenz geborene Loeb, der 1891 in die USA ging, für ein Experiment mit Seeigeln, das unter der Bezeichnung "artifizielle Partogenese" in die Wissenschaftsgeschichte einging. Loeb gelang es, unbefruchtete Seeigeleier zur Teilung zu bewegen, als er das chemische Milieu des Wassers veränderte, in dem die Zellen lagen. Die "osmotische Entwicklungserregung" unbefruchteter Seeigeleier wurde nicht nur zum literarischen Topos. Loeb griff mit wissenschaftlichen Methoden in die Entstehung des Lebens ein. Die ethische Bewertung der im Jahr 1906 angestoßenen Forschung ist bisher nicht abgeschlossen.

Nicht allein die literarische Verarbeitung der Figur Loeb macht deutlich: er galt als Personifizierung des biomedizinischen Materialismus. Rudolf Steiner bezeichnete ihn als brutalen Verletzer ethischer Grundregeln. Houston Stewart Chamberlain sah in Loeb den Stellvertreter der "ganzen luziferischen Wissenschaft". Hier werden antisemitische Ressentiments bedient, die sich -wie Fangerau nachweist - bei Alfred Rosenberg als antimodernistisch-völkische Furcht vor der "Alleinherrschaft mechanistischer Methoden in der Wissenschaft" (108) manifestierten. Bei dem NS-Ideologen münden sie in dem Zitat: "Auch ein Professor Jacques Loeb, der die Krankheit der Vaterlandsliebe mit viel Emsigkeit erforscht hat, um sie als Überreizung der Gewebe zu entziffern, gehört nebst allen andern seiner Rasse und den von ihrem Geiste angewehten Männern zu den uns ewig Fremden." [2]

Die kulturhistorische Breite von Fangeraus an der Universität Düsseldorf entstandenen Habilitationsschrift zeigt sich unter anderem in der Darstellung von Loebs Interpretation des deutschen Militarismus, seiner Aussagen zum "hierarchisch metaphysisch geprägten deutschen Universitätsstil" (111) und seiner luziden Prognose, die auf Ernst Haeckel zurückgehende deutsche Ausprägung des Darwinismus bilde einen Nährboden rassistischer Ideologien.

Eine Basis des Buches bildet die bibliometrische Analyse von Loebs wissenschaftlichem Netzwerk, die über eine reine Zitationsanalyse der über 500 Veröffentlichungen Loebs weit hinausgeht. Aus Deutschend in die USA emigriert, importierte Loeb Wissensbestände seiner akademischen Lehrer. Das war zu einer Zeit in der Universitätsstädte, wie Berlin und Heidelberg, pro Semester jeweils zwischen 30 bis 50 amerikanische Medizinstudenten zu Gast hatten. Nach dem Ersten Weltkrieg war es umgekehrt. Ein Rockefeller Stipendium war das höchste Ziel Deutscher Nachwuchswissenschaftler. Fangeraus Analyse der Wissenschaftsstile diesseits und jenseits des Atlantiks fördert aber auch zutage, wie sehr sich die Inhalte der Fächer Biologie, Zoologie und Physiologie mit ihren ursprünglich sehr verschiedenen Denkansätzen verschränkten.

Experimentell muten die Graphiken an, mit denen Fangerau die wissenschaftlichen Pfadfinder neuer Gedankengebäude visualisiert, die in Loebs Netzwerk eine Rolle spielen. Sie erinnern an die Soziogramme des Künstlers Mark Lombardi, und sie besitzen ähnliche Suggestionskraft. Grafisch aufbereitet, lösen sich die von Loeb häufig genannten Forscherpersönlichkeiten Driesch, Sachs, Warburg, Nussbaum oder Hertwig als große Namen aus der Masse der zitierten Wissenschaftler. Die Kleingedruckten (seltener zitierten) im Hintergrund verschwimmen im Grau der Druckvorlage.

Die quantitative Auswertung der Publikationen ergänzt Fangeraus qualitative Netzwerkanalyse, die auf eine 10.000 Briefe umfassende Wissenschaftlerkorrespondenz zurückgreift. So stand dem wohldosierten und gewichteten Zitieren, das Loeb in seinen Fachpublikationen praktizierte, eine ebenso umsichtige und geplante Forschungsförderung gegenüber. Dabei hatte Loeb sowohl die USA als auch das Deutschland der Weimarer Republik im Blick. Spinning the scientific web fügt Dokumente aus Archiven beiderseits des Atlantiks zusammen.

Es gibt viel zu entdecken in Heiner Fangeraus Buch. Mit Scharfsinn und Methode zeichnet es ein wissenschaftliches Netzwerk nach. Es analysiert exemplarisch die Entstehung und Verbreitung biomedizinischer Erkenntnis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und es liefert, ganz nebenbei, auf Basis der breit gefächerten Quellen die wohl differenzierteste Charakterstudie des Physiologen Jacques Loeb seit Sinclair Lewis.


Anmerkungen:

[1] Herman Bernstein: Celebreties of our time. New York 1924, 64 [eigene Übers.].

[2] Alfred Rosenberg: Schriften und Reden. Band 1. Schriften aus den Jahren 1917-1921. München 1943, 295.

Philipp Osten