Molly Rogers: Delia's Tears. Race, Science, and Photography in Nineteenth-Century America, New Haven / London: Yale University Press 2010, XXV + 350 S., ISBN 978-0-300-11548-2, GBP 28,50
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Delia war eine Sklavin auf einer Plantage in den amerikanischen Südstaaten. Sie wurde 1850 von dem Fotografen Joseph Thomas Zealy im Auftrag des aus der Schweiz stammenden und ab 1847 in Harvard lehrenden Naturforschers Louis Agassiz fotografiert. Die mit ihrem Namen versehene Daguerreotypie ist im Peabody-Museum in Cambridge, Massachusetts aufbewahrt worden und daher ein Gegenstand, der noch heute betrachtet und analysiert werden kann. Delias Tränen, auf die der Titel verweist, sind nicht wirklich sichtbar. Die Annahme fußt - wie Molly Rogers berichtet - auf einer optischen Täuschung, wahrscheinlich hervorgerufen durch Augenbewegungen Delias während der Belichtung (6). Die Tränen können nur imaginiert werden, so wie es Ellie Reichlin tat, die 1977 die Bilder entdeckte (247).
Und um genau solche Zuschreibungsprozesse, die die Bedeutung von Bildern steuern, geht es in dem Buch; um die Frage, in welchen Kontexten Bildern welche Bedeutung und welcher "Sinn" zugeschrieben wird. Zentral in diesem Zusammenhang ist die Aussage, dass die Bedeutung der Fotografien von den Betrachtern an sie herangetragen werde (235); mit anderen Worten, dass Fotografien an sich wenig bedeuten und ihr "Sinn" allein - und wenn nicht allein so doch hochgradig - vom Kontext abhängt. Entsprechend wird der Kontext der Aufnahmen von versklavten Frauen und Männern von 1850, die den Dreh- und Angelpunkt des Buches bilden, sehr weiträumig beschrieben. Erst im letzten Viertel des Buches rekonstruiert Rogers die Aufnahmesituation und den unmittelbaren, zeitnahen Gebrauch der Daguerreotypien (ab 222ff.). Dieser Sinngebungsprozess und die besondere Rolle der Fotografie werden sehr gut und eindringlich beschrieben.
Die Darstellung gliedert sich in zwei annähernd gleichgewichtige Teile; im ersten Abschnitt werden die weiteren historischen und sozioökonomischen Umstände erläutert; im zweiten Abschnitt werden die Beteiligten und der unmittelbare Kontext der Bilder ausführlich dargestellt. Anschließend wird die Aufnahmesituation dicht beschrieben sowie die unmittelbare Verwendung der Bilder - soweit nachweisbar - rekonstruiert. Es folgt ein Epilog, der das Schicksal der Protagonisten nachzeichnet, und die durch den Sezessionskrieg bedingte sozioökonomische Umwälzung in den Südstaaten anspricht sowie besonders dem wissenschaftlichen Paradigmenwechsel seit Darwins "On the Origin of Species" (1859) gewidmet ist.
Welchen "Sinn" also hatten die Daguerreotypien der Sklavinnen und Sklaven um 1850? Die Bilder wurden angefertigt, um die rassistische Theorie der Polygenese der Menschheit (also der gleichzeitigen Entstehung der Menschheit an mehreren Orten) zu stützen. Sie wurde von weißen nordamerikanischen Naturforschern und Anthropologen entwickelt und bezweckte vor allem die Sklaverei zu rechtfertigen sowie eine gleichsam naturgegebene Überlegenheit der Weißen zu begründen. Das sollte das sozioökonomische System der Südstaaten stabilisieren und gegen Kritik immunisieren. Fotografie war hierbei ein wichtiges Element der "wissenschaftlichen" Argumentation und damit ein eminent politisches Mittel.
Rogers holt weit aus, um zu begründen, warum die Theorie der Polygenese entwickelt wurde und warum sie in einem spezifischen Zeitraum - Mitte des 19. Jahrhunderts - in einem besonderen geographischen Raum (den amerikanischen Südstaaten) blühte. Das ist eine Stärke des Buches. Rogers stellt die Bedeutung des Baumwollanbaus in South Carolina - und den Südstaaten - dar, erläutert die soziale Struktur der Plantagengesellschaft und schätzt den Stellenwert von Wissen und Wissenschaft in den USA in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Die zentrale Bedeutung der Baumwolle für die Wirtschaft wird somit ebenso deutlich, wie deren Abhängigkeit von der Sklavenökonomie. Auf diese Weise erklärt sich das ausgesprochene Interesse der Sklavenhaltergesellschaft für alle möglichen Be- oder Nachweise "weißer" Überlegenheit gegenüber der versklavten Bevölkerung. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts geriet das System zunehmend unter Druck: Aufklärung und Abolitionsbewegung delegitimierten die Sklaverei. Wissenschaftliche Begründungen für die Unterlegenheit der Afrikaner boten scheinbar einen Ausweg und dies umso mehr, als der wissenschaftliche Diskurs noch offener war als in späteren Jahrzehnten (Kap. 5). So eröffnete das für die Pflanzer die Option, aus der Theorie der Polygenese eine neue Legitimation der Sklaverei abzuleiten und damit ihr gesellschaftliches und wirtschaftliches System aufrecht zu erhalten. Auch wenn dies mit der biblischen Schöpfungsgeschichte nicht im Einklang stand und daher mit den Kirchen einen ernsthaften Konflikt heraufbeschwor.
Ein wichtiger Aspekt - den Rogers mehrfach betont - ist die zeitgenössisch bedeutsame visuelle Beweisführung. Denn eine nachgewiesene Beobachtungsgabe und die Fähigkeit das Gesehene beschreiben, strukturieren, klassifizieren und zuordnen zu können schuf wissenschaftliche Autorität. Fragen, wer die visuellen Aspekte eines Objektes "besser", "genauer" oder "wissenschaftlicher" betrachten und beurteilen könne, spielten hierbei eine große Rolle. Doch auch die Netzwerke zwischen Forschern und Südstaatenelite waren im vorliegenden Fall entscheidend und die besondere Stellung von Louis Agassiz als allgemein anerkannter Experte.
Rogers Buch ist wohlkomponiert, gut geschrieben und vermag auch zu unterhalten. Es führt ein in die innere Ordnung der amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und ihrer Verwerfungen, wirft Licht auf die Geschichte des Rassismus und verdeutlicht, dass Strukturen und Ereignisse, Gesellschaft und Individuen gleichermaßen Platz in einer historischen Darstellung verdienen. Was die Lesbarkeit erhöht fordert aber auch Tribut: gerade weil die Erzählung auf der Schnittstelle zwischen Fiktion und Forschung liegt, ist der wissenschaftliche Apparat knapp gehalten (nur wenig weiterführende Literatur wird angegeben) und die Grenze der Genres wird zuweilen verwischt, um Nähe zu den Betroffenen zu erreichen. Aber stets spricht die Autorin, Molly Rogers, niemals die historischen Personen. Auch wenn die Annäherung vorsichtig erfolgt und Rogers auch oft eingesteht, dass man nie wissen wird, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht, legt sie doch ihre Vorstellung als Maßstab an. Im Wunsch auch diejenigen, die nicht in Briefen, Tagbüchern oder sonstigen Quellen greifbar werden, als eigenständig handelnde Personen vorzuführen, wird ihnen aber diese Eigenständigkeit gleichsam wieder genommen. Ohne diese Abschnitte verlöre das Buch keine Substanz, der Gewinn aber erscheint ungewiss. Zu diskutieren wäre außerdem die Frage, ob Fotografien wirklich nur "Sinn" durch ihre Verwendungszusammenhänge erhalten oder nicht doch jenseits ihrer Bedeutungsoffenheit einen Eigensinn entfalten und in ihren Zuschreibungsmöglichkeiten doch immer durch Form, Ästhetik und Inhalt begrenzt sind. Das ist zwar angedeutet - eben unter Hinweis darauf, dass die Bilder nicht im Sinne der Auftraggeber zu funktionieren schienen - wird aber nicht intensiver verfolgt.
Als Film- oder Fernsehproduktion würde das Buch als "docufiction" klassifiziert werden können. Es macht einen komplexen Stoff, die Verflechtungen von Rasse, Wissenschaft und Fotografie in der amerikanischen Gesellschaft, zugänglicher, und lesbarer. Für die Substanz lässt sich aber auch auf wesentlich kürzere Arbeiten verweisen, wie etwa Brian Wallis' kurzer Aufsatz aus dem "Journal of Blacks in Higher Education" von 1995. Nach der Lektüre der fünf Seiten hat man prinizipiell die gleiche Erkenntnis gewonnen. [1] Aber wenn es darum geht, sich über die Zusammenhänge von Gesellschaft, Wissenschaft und Sklaverei in den USA, namentlich in den Südstaaten Mitte des 19. Jahrhunderts zu orientieren, so ist Rogers ein angenehmer Weg, dies zu tun.
Anmerkung:
[1] Brian Wallis: Black Bodies, White Science: The Slave Daguerreotypes of Louis Agassiz, in: The Journal of Blacks in Higher Education No. 12 (1996), 102-106.
Jens Jäger