Michael Fischer / Christian Senkel / Klaus Tanner (Hgg.): Reichsgründung 1871. Ereignis - Beschreibung - Inszenierung, Münster: Waxmann 2010, 174 S., ISBN 978-3-8309-2103-5, EUR 29,90
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Der vorzustellende Band fasst die Ergebnisse einer Dresdner Tagung vom Februar 2008 zusammen, es handelt sich um eine gemeinsame Veröffentlichung des von der DFG zwischen 1997 und 2008 geförderten Sonderforschungsbereichs 537 "Institutionalität und Geschichtlichkeit" der TU Dresden bzw. dessen Heidelberger Teilprojekts "Sozialstaatliche Leitideen und Institutionalisierungskonzepte im Protestantismus des 19. Jahrhunderts" und des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg. Ziel der Arbeit in diesem Teilprojekt war es, einen Beitrag zur Erforschung der protestantischen Prägekräfte der politischen Kultur im Deutschland des 19. Jahrhunderts zu leisten. [1] Unter den Leitbegriffen "Ereignis", "Beschreibung" und "Inszenierung" werden, wie es der Theologe Christian Senkel (Halle) in seiner Einleitung ausdrückt, in dem Sammelband "Kreuzungspunkte von Medien und Religion, von Politik und Konfession, von Institutionalität und Deutungsmacht im zeitnahen Umfeld der Reichsgründung diskutiert, um zu ermitteln, wie die Reichsgründung als Ereignis perzipiert, als Vorgang beschrieben und als Gründungsakt inszeniert worden ist." (7) Wenn Senkel weiter ausführt, es habe sich gezeigt, "dass die mediale Gestaltung und Kommentierung des politischen Bekenntnisfalls 'Reichsgründung' weder vom konfessionellen Status noch vom religiösen Phantasma ihrer Produzenten und Rezipienten gelöst werden kann" und hinzufügt, deshalb seien für die Überlegungen zur Reichsgründung "konfessionsspezifische Mechanismen in der Annahme (oder Ablehnung) des Reichs und die Entstehung einer politischen Religiosität im Reich zu beachten" gewesen (7f.), so überrascht den Historiker diese Erkenntnis insofern nicht, als der protestantische Charakter des Deutschen Kaiserreichs und die damit verbundenen Probleme seiner symbolischen Repräsentation bzw. der Konstruktion einer auf dieses Reich bezogenen nationalen Identität sowie der Stellenwert der Kirchen bzw. Konfessionen nach 1871 bereits vor mehr als 20 Jahren in der historischen Forschung intensiv diskutiert wurden. [2] Wie lebendig dieses Themenspektrum bis heute ist, zeigen nicht zuletzt die zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen von Dieter Langewiesche. [3]
Der Sammelband bietet insofern keine grundstürzend neuen Ergebnisse, sondern er leuchtet vielmehr neue Facetten der Gesamtthematik bzw. einzelner Teilthemen aus. Die Beiträger kommen mehrheitlich aus Nachbarwissenschaften der Geschichtswissenschaft, es handelt sich bei der Veröffentlichung insofern um ein wirklich fächerübergreifendes Unternehmen. Den Auftakt bildet ein Beitrag des evangelischen Theologen und Historikers Johannes Wischmeyer über protestantische Inszenierungen der Reichsgründung 1871, wobei er ausgeht von der improvisierten kirchlichen Feierstunde in Versailles vor der Kaiserproklamation. Wischmeyer kommt hierbei zu dem Ergebnis, dass es eher die kirchlich Interessierten und Engagierten gewesen seien, die ihre jeweilige theologisch-kirchenpolitische Parteilinie als adäquate religiöse Antwort auf das Zeitgeschehen herausgestellt hätten. Dies sei allerdings weniger spektakulär, weniger eindeutig und weniger erfolgreich erfolgt als die neuere historische Nationalismusforschung dies suggeriere.
Die Erziehungswissenschaftlerin, evangelische Theologin und Germanistin Peggy Renger-Berka beschäftigt sich mit den Dresdner Diakonissen im deutsch-französischen Krieg 1870/71, ein interessantes Fallbeispiel, welches zeigt, dass die tradierte Loyalität zum Haus Wettin und damit zum Königreich Sachsen trotz der sich überschlagenden nationalpolitischen Ereignisse in der damaligen Gegenwart in diesem Submilieu wichtiger war als das als abstrakt und fern empfundene neue Reich bzw. der Nationalstaatsgedanke. Die Germanistin Bettina Bannasch behandelt jüdische Perspektiven auf die Reichsgründung insbesondere am Beispiel des Dichters Karl Emil Franzos (1848-1904). Im Mittelpunkt des Beitrags steht die seit den späten 1870er Jahren immer größer werdende Diskrepanz zwischen persönlicher patriotischer Gesinnung vieler Juden (der Österreicher Franzos war von Hause aus großdeutsch gesinnter Patriot und Burschenschafter) und dem wachsenden gesellschaftlichen Antisemitismus.
Der Germanist Dominic Fugger untersucht die Haltung von Ferdinand Gregorovius (1821-1891) zur Reichsgründung. Bemerkenswert ist, dass dieser den neu geschaffenen Nationalstaat als Übergang zu einem föderativen Europa sah - ein auffallend moderner und im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts keineswegs selbstverständlicher Gedanke. Es folgen drei interessante musikwissenschaftliche Beiträge: Nils Grosch beschäftigt sich mit der Übertragung der preußischen Königshymne ("Heil Dir im Siegerkranz") auf das neue Kaiserreich, wobei diese von ihm zu Recht als "invented tradition" (Eric Hobsbawm) bezeichnete "Translatio" in einen größeren Zusammenhang seit dem späten 18. Jahrhundert gestellt wird. Michael Fischer behandelt den Kaisermarsch Richard Wagners als nationalprotestantisches Symbol und Katharina Hottmann das Musikerehepaar Ingeborg und Hans von Bronsart, denen es im Unterschied zu Wagner gelungen war, Kompositionen im Kontext der offiziellen Siegesfeiern in Berlin zu positionieren.
Den Abschluss bilden zwei architekturgeschichtliche Beiträge: Der evangelische Theologe Sebastian Kranich beschäftigt sich mit dem Lutherdenkmal vor der Dresdener Frauenkirche - ein hochinteressanter Beitrag, weil er zeigt, dass dieses Denkmal, welches heute vor allem dadurch eine nationale Bedeutung hat, dass es aufgrund seines exponierten Standorts zu einem Symbol der friedlichen Revolution von 1989/90 wurde, eine bisher wenig bekannte Vorgeschichte hat, die nicht weniger von nationalpolitischem Gehalt ist. Einen ungewöhnlichen Blick auf die Bismarckdenkmäler des späten Kaiserreichs wirft der Architekt und Architekturhistoriker Kai Krauskopf. Es ist zwar etwas bedauerlich, dass dieser die reichhaltige einschlägige historische und kunsthistorische Literatur zum Bismarckkult kaum in den Blick nimmt, doch wird dieses Defizit in gewisser Weise dadurch aufgewogen, dass Krauskopf in Form eines Ausblicks eine globale und zeitübergreifende architekturgeschichtliche Einordnung der Bismarckdenkmäler vornimmt, die Abschied nimmt von der deutschen Nabelschau und bis in die Gegenwart reicht. In dieser Sichtweise werden die Bismarckdenkmäler zu einem wichtigen Meilenstein internationaler Memorialarchitektur, die auf historische Zitate weitgehend verzichtet und deren Formrepertoire auf Ideen zurückgreift, "die sich hinsichtlich repräsentativer Wirkung schon in anderen Bauaufgaben bewährt haben. Es wird deshalb möglich, auch mit Gestaltungsmitteln modernen Baustils Erinnerungsbewegungen in die Vergangenheit einzuleiten." (174) Ein faszinierender neuer Blick auf ein altes Thema, den weiterzuverfolgen sicherlich lohnenswert ist.
Anmerkungen:
[1] Vgl. http://rcswww.urz.tu-dresden.de/~pr140583/Literaturdatenbank.Start.html [Aufgerufen am 5.3.2011]
[2] Vgl. v.a. Elisabeth Fehrenbach: Reich. In: Geschichtliche Grundbegriffe 5 (1984), 423-508. Vgl. ferner Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Band I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, 428-530, zum Protestantismus vgl. v.a. 468-507.
[3] Vgl. zuletzt Dieter Langewiesche: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000 und Ders.: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München 2008.
Matthias Stickler